- 1. Die Weisheit der Betroffenheit
- 2. Heilung und Therapie
- 3. Heilende Beziehung
- 4. Der Glaube an das Kind
- 5. Die 55-38-7-Regel
- 6. Sprachcodes
- 7. Die Kraft innerer Bilder
- 8. Freiheit – das höchste Gut
- 9. Vertrauen zeugt Freiheit
- 10. Vertrauen und Offenheit
- 11. Die elementaren Bedürfnisse eines Kindes
- 12. Die innere Adoption
- 13. Übertragung
- 14. Familiarität
- 15. Mütterlichkeit
- 16. Saatkörner pflanzen – Geduld
- 17. Väterlichkeit
- 18. Vaterprägungen
- 19. Geschwisterlichkeit
- 20. Spiel
- 21. Heimatlichkeit
- 22. Kultur
- 23. Zuhause
- 24. Besitz und „Adel“
- 25. Körperlichkeit
- 26. Der Engelkreis
- 27. Prognose
1. Die Weisheit der Betroffenheit
Die Richtung unserer Suche gab uns die Erfahrungen von traumatisierten Menschen vor. Betroffene, die sich ihrem Schicksal gestellt und dieses in ihr Leben integriert haben, verfügen über eine besondere Kompetenz für die Heilung (Expertentum der eigenen Betroffenheit). Diese gilt in vielen anderen Bereichen auch. So war es konsequent, betroffene Menschen mit auf den Weg zu nehmen. Dabei mussten wir jedoch ernüchternd erkennen, dass dies nur möglich ist, wenn jemand den Mut hat, sich selbst ehrlich anzusehen und Schritte der Veränderung zu wagen, d. h. zu vertrauen, die Brille des Misstrauens abzulegen und sich aus der Falle des Selbstmitleids zu befreien. Zu einem Wegweiser wurden für uns die Worte einer Betroffenen, die uns sehr inspirieren und ermutigen.
In der Liebe neu geboren werden
Die Heilung ist nur durch etwas möglich, was ich als „neue Geburt“ bezeichne. Doch dies ist ein besonderer Weg, der nicht in den Lehrbüchern steht und der nicht an Universitäten und Ausbildungsstätten gelehrt wird.
In einem quälenden Lernprozess, der uns an die Grenze des Lebens führt und oft noch darüber hinaus, in dem wir in das Totenreich hinabsteigen, werden wir neu geboren. Wir können das Leben nicht auf dem normalen Weg eintreten, wie ein Kind es betritt, geführt an der Hand eines liebevollen Vaters, auf den wir uns ganz hingebend verlassen können. Wir müssen es auf anderen Wegen betreten, auf einer Brücke, die uns ein Mensch in seiner Liebe baut.
So ist unser Weg auch eine große Chance, die wir euch allen voraus haben, die ihr einen kindlichen Weg in das Leben gehen durftet. Wir betreten das Leben in der Liebe, denn sie ist unser einziger Weg, unser Leben zu finden. Im ehrlichen „DU“ eines Menschen werden wir ICH, und können die Schuld, die Scham und die Neigung uns auszulöschen und uns unwert für das Leben zu empfinden, überwinden.
Im wahrhaftigen „du“ habe ich erfahren, dass ich ein Recht habe zu leben, und liebenswert und liebenswürdig bin. Darin habe ich erkannt, dass ich ein Recht und auch eine Pflicht habe ich-werdend zu leben und nicht nur Opfer in den Machtplänen von Tätern zu sein.
In der Liebe bin ich zur Freiheit erwacht, doch um den Preis, dass ich nun für mich verantwortlich wurde. Doch was sehr schmerzlich ist, auf all das zurück zu blicken, was nicht gelebt wurde, ja was an Leben zerstört wurde. Dies löst eine tiefe Trauer aus, Trauer um das nicht gelebte Leben. Aber einen anderen Weg gibt es nicht.
Doch gibt es auch eine große Angst vor der Liebe und darin auch eine große Angst vor Nähe, die bei uns allen zu finden ist. Jede Annäherung macht uns panische Angst, löst Abwehr, Gegengewalt, Flucht und den Impuls aus, uns auszulöschen. Es ist so schwer, einem anderen Menschen zu erlauben, dass er uns nahe ist, dass er uns liebt, dass er uns berührt, uns ansieht, uns versteht, uns in die Arme nimmt.
Diese Angst vor der Liebe und Nähe ist die größte Angst in uns, doch ist sie eigentlich die Angst unseres kleinen Ichs, das in dem Schrecken überlebt hat. Wir müssen Sicheres verlassen, um neu zu werden, denn das kleine sichere Leben ist nicht lebenswert und beengend wie ein Kerker, voll von Kontrolle.
Doch uns selbst zu erlauben, einen anderen Menschen zu lieben, und ihm nahe sein zu dürfen, und ihm zu erlauben, uns nahe sein zu dürfen, ist das Schmerzhafteste, was es auf unserem Weg gibt.
(Dr. Peter Schopf: Damit aus Überleben Leben werden kann – Fachtagung: Abensberg, den 24. Februar 2005)
2. Heilung und Therapie
Was diese betroffene Frau beschreibt, ist etwas ganz anderes als eine an Symptomen orientierte Therapie.
Heilung erfordert einen neuen Lebensentwurf.
Der Vergleich mit einem Haus macht es anschaulich: Traumen zerbrechen die Fundamente, die für ein standfestes Lebens-Haus erforderlich sind. Übliche Lösungen bestehen mehr darin, durch Reparaturen und Hilfsstützen wenigstens ein einfaches Leben im Erdgeschoss zu ermöglichen. Dies ist jedoch ein Kümmerleben und keine Entfaltung der eigenen Lebensoptionen, worunter viele Betroffene leiden.
In der Logik dieses Bild ist es oft erforderlich, das alte Haus abzureißen und mit den Ziegeln auf neuen Fundamenten ein neues Lebenshaus zu erbauen. Doch bedarf es großen Mut, das Kümmerleben zu verlassen und die inneren Abhängigkeiten zu durchtrennen. Neues macht Angst, Gewohntes gibt Sicherheit, auch wenn es das Leben kostet.
Dieses Bild macht auch den wesentlichen Unterschied zwischen Therapie und Heilung anschaulich. Heilung ist ein mühevoller Weg, das „Kellerkind“ in einen „Baumeister“ seines Lebenshauses zu wandeln. Gelingt dies, wird aus Verkümmerung Lebendigkeit, aus Scham Stolz und aus Schuld Zuversicht.
3. Heilende Beziehung
Die Erwartung an Therapie ist, dass sie wirkt. Dies kann sie nur, wenn sie dort ansetzt, wo der Defekt vorliegt. Ein Beinbruch bedarf der mechanischen Stabilisierung und Diabetes der Gabe des fehlenden Insulins. Auch für ein Trauma gilt dieses Prinzip: Heilung muss dort ansetzen, wo die Verletzung vorliegt. Für Traumen ist dieser Zielpunkt schwierig zu definieren, denn es liegt kein isolierter Defekt vor, sondern eine „existenzielle Verletzung“ des gesamten Menschseins.
Daraus folgt: Die heilende „Kompetenz“ ist primär nicht die Fachlichkeit, sondern eine Person, d. h. die „existentielle Kraft“, die ein Mensch aus seinen Wurzeln ziehen kann. Diese personale Kompetenz kann nicht an Universitäten gelernt werden, sondern hängt von der Bewusstheit eines Menschen ab, die er auf seinem ehrlichen Lebensweg geworden ist. Wer selbst über Urvertrauen verfügt, kann ein zerbrochenes Urvertrauen heilen. Wer über diese Kraft verfügt, ist ein Wegbegleiter, ein Verbündeter, der selbst mitgeht, weil er selbst ein Gehender, ein Weg-Mensch ist.
4. Der Glaube an das Kind
Auf unserem Weg ist uns die enorme Tragweite von Erkenntnissen der Psychologie bewusst geworden, die als Pygmalion-Effekt beschrieben werden. Sehr eindrucksvolle Studien haben gezeigt, welche enorme Macht das innere Bild hat, das man von einem anderen Menschen hat. Ist z. B. ein Lehrer der Ansicht, dass ein Kind dumm sei, dann wird es auch messbar dümmer; sieht er im Kind ein verkapptes Genie, dann wird es messbar intelligenter.
Diesen Effekt hat, lange bevor die experimentellen Psychologie die Bühne betrat, Lao Tse erkannt und in eine sehr anschauliche Geschichte gefasst:
Ein Mann fand eines Tages seine Axt nicht mehr. Er suchte und suchte, aber sie blieb verschwunden. Er wurde ärgerlich und verdächtigte den Sohn seines Nachbarn, die Axt gestohlen zu haben. Er beobachtete den Sohn seines Nachbarn ganz genau. Und tatsächlich: Der Gang des Jungen war der Gang eines Axtdiebs. Die Worte, die er sprach, waren die Worte eines Axtdiebs. Sein ganzes Wesen und sein Verhalten waren die eines Axtdiebs. Am Abend fand der Mann die Axt unter einem großen Holzstapel. Am nächsten Morgen sah er den Sohn seines Nachbars erneut. Sein Gang war nicht der eines Axtdiebes. Seine Worte waren nicht die eines Axtdiebes und auch sein Verhalten hatte nichts von einem Axtdieb.
Die eigenen Vorstellungen vom anderen bestimmen unser Verhalten. Wer aus fachlichen Gründen überzeugt ist, dass „Frühstörungen“ im Grunde genommen unheilbar sind, höchstens in ihren Folgen gemildert werden können, … der gleicht dem Nachbar in der Geschichte. Das Kind wird sich an diesem inneren Bild ausrichten und wird die negative Prognose bestätigen.
Eine positive Zukunftsvision überträgt sich unbewusst auf das Kind; es wird alles daran setzen, diese Erwartungen zu erfüllen. Das Schmieröl in dieser Dynamik ist der Stolz der „Eltern“.
Auf dem Fundament des bedingungslosen Glaubens an das Kind, können auch entmutigende Phasen durchgestanden werden, wenn sich die unbewussten Täterintrojekte (die im Trauma verinnerlichten Täter, > Identifikation mit dem Aggressor) destruktiv und gewaltsam melden. Gerade dann, wenn sich der Betroffene oft selbst verliert und fremd in sich und in der Welt wird, gilt es, entschlossen da zu bleiben, und das Kind nicht mit dem Täter gleich zu setzen und damit die oft erlebte Erfahrung zu wiederholen. Das Kind von diesem inneren Täter, und seiner Macht über das Kind, zu befreien, ist gerade das Ziel.
5. Die 55-38-7-Regel
Unser fachlicher Verstand hat ein großes Bedürfnis, Erklärungen für Probleme zu finden und aus diesem Verstehen heraus, auf das Kind einzuwirken, meistens durch Belehrungen und Anweisungen. Ein ehrlicher Blick macht jedoch schnell die Wirkungslosigkeit klar – das Kind hat eine andere Logik und lebt oft in einer anderen Zeit (Primärprozess). In der unbewussten Welt des Kindes hat nicht das Bedeutung, „was“ gesagt wird, sondern „wie“ es gesagt wird. Daraus folgt, dass vorranging die „Kräfte“ heilend wirken, die einen Zugang ins Unbewusste finden.
Dies belegen auch Untersuchungen von Vorträgen: Die beim Zuhörer erzielte Wirkung wird nur zu 7% vom Inhalt geprägt! Die Stimme und Sprache (d.h. Wortwahl, Klang der Stimme, Sprechgeschwindigkeit, etc.) trägt beachtliche 38% zur Wirkung bei. 55% der Wirkung wird durch die Körpersprache vermittelt (wie man dasteht, die Körperspannung, Bewegung, Handhaltung, Gestik und Mimik, etc.). Wenn dies schon bei Erwachsenen so ist, dann sehr viel mehr bei Kindern.
Bewusst ins Unbewusste hineinwirken zu wollen, ist eine Paradoxie. Worte kann man bewusst wählen, doch nicht die Körpersprache – das Unbewusste wird es sofort erkennen. Dies gilt besonders für die heilenden Kräfte: nur Unbewusstes kann ins Unbewusste hineinwirken, d. h. nicht unsere bewussten Absichten wirken, sondern was wir unbewusst sind – unsere Wesen. Unser Sein drückt sich unbewusst in dem „wie“ aus, in unserer Sprache, Gestik, Mimik, Motorik, am tiefsten in der Weise, wie wir jemanden berühren.
Kinder haben die große Fähigkeit, sich von Äußerlichkeiten nicht verführen zu lassen – sie sehen in die Seele eines Menschen. Sie sind das gefürchtete Publikum von Magiern, denn sie lassen sich durch Tricks nicht blenden.
Verbinden wir dies mit dem Pygmalion-Effekt, dann sind unsere inneren Einstellungen und Erwartungen die mächtigsten Kräfte, die ins Unbewusste hineinwirken können. Die logisch formulierten Argumente bleiben wirkungslos – sie dienen mehr der eigenen Beruhigung. (Anmerkung: Die Realität des pädagogischen Alltags wird jedoch überwiegend von rationalen Erklärungen der Gedankenwelt der Pädagogen bestimmt.)
Die therapeutische Methode, die dem Unbewussten eine große Bedeutung beimisst, ist die Tiefenpsychologie. Es sind die Grundlagen unserer Fachlichkeit.
6. Sprachcodes
Diese Erkenntnis macht die besondere Bedeutung der Sprache bewusst, mit dem Unbewussten des Kindes in Kontakt zu kommen. Die große Bedeutung von Sprache wird in der Pädagogik kaum gesehen. Die Sprache in den pädagogischen „Räumen“ wird vom Sprachcode der akademisch gebildeten Pädagogik bestimmt.
Bernstein hat gezeigt, dass in sozialen Schichten unterschiedliche „Sprachen“ gesprochen werden, was zusätzlich die Kommunikation erschwert, denn die Kinder und die Pädagogik stammen aus unterschiedlichen Schichten und sprechen z.T. unterschiedliche Sprachen (restringierter und elaborierter Sprachcode).
Hilfreich ist auch die Unterscheidung, die Freud getroffen hat: er weist dem Unbewussten seine eigene Sprache und eine eigene Weise zu Denken zu (Primärprozess: Traum, akausal, zeitlich oft ungerichtet, chaotisch …). Im Gegensatz dazu ist das Bewusstsein durch eine Sprache bestimmt, in der Vernunft und Logik regieren (Sekundärprozess), sie ist zeitlich klar geordnet; ihr Gesetz ist die Kausalität.
Traumen, vor allem in frühen Jahren, hinterlassen ihre Spuren im Unbewussten des Kindes. Dahinein zu wirken, bedarf einer Kommunikation, die das Unbewusste des Kindes auch verstehen kann. Die Vernunft muss zurückstehen. Bilder, Symbole, Köperkontakt, Gefühle … bestimmen die Kommunikation, die aus dem Unbewussten kommen (das Unbewusste kommuniziert mit dem Unbewussten).
7. Die Kraft innerer Bilder
Kommunikation geschieht nur scheinbar äußerlich, sondern eigentlich innerlich. Nicht nur die äußeren Personen treten in Beziehung, sondern sehr viel mehr die inneren. Innere Personen sind die Bilder, die ich vom anderen habe und die Bilder, die der andere von mir hat.
Mit diesem inneren Bild ist eine sehr bedeutsame Kraft verbunden: man will das innere Bild im anderen nicht enttäuschen, das man meint, das der andere von einem hat (Symbolischer Interaktionismus).
Wenn ein Schüler in sich das Bild hat, dass der Lehrer ihn mag, dann wir der Schüler alles tun, um diese innere Person im Lehrer nicht zu enttäuschen, es wird lernen, um die positive Sicht zu bestätigen. Dies macht auch die Liebe zur stärksten Kraft, denn wenn das Kind sich geliebt weiß, dann wird es alles tun, diese Liebe nicht zu verlieren und ihr zu entsprechen. Dies gilt leider auch umgekehrt: wer überzeugt ist, dass die anderen ihn nicht lieben, wer das Bild in sich trägt, liebensunwert zu sein, der wird sich auch so verhalten, dass er diesen Erwartungen des inneren Bildes im Gegenüber entspricht.
Diese inneren Bilder sind auch die Kräfte, die traumatisierte Menschen in ihren bösen Bann ziehen, aus dem sie sich kaum befreien können (ich bin schuld, ich bin nicht liebenswert, ich schäme mich …). Es bedarf sehr viel „Liebe“, damit ein Mensch diese inneren Bilder langsam aufweichen und verändern kann, denn diese Erwartungen geben auch Sicherheit. Diese Selbst- und Fremdattributierungen zu überwinden, ist auch deshalb so schwer, weil sie einen Gewinn mit sich bringen: sich nicht auf den mühevollen Weg der Veränderung machen zu müssen. Die Worte der Betroffenen zu Beginn zeigen, wie mächtig diese inneren Bilder sind:
In einem wahrhaftigen „du“ habe ich erfahren, dass ich ein Recht habe zu leben, und liebenswert und liebenswürdig bin.
8. Freiheit – das höchste Gut
Über dem Erziehungsauftrag steht die existentielle Freiheit des Kindes. Sich dieser bewusst zu sein, und diese zu achten, ja zu lieben, verleiht jeder Beziehung erst ihre Würde. Das Bewusstsein der Freiheit ist die Quelle der paradoxen Kraft, Misstrauen, Verweigerung und Ablehnung nicht nur anzunehmen, sondern sie dem Kind zuzugestehen, auch wenn es schmerzlich ist.
Vertrauen wurzelt in diesem freien Wesensgrund. Man bekommt es geschenkt; es zu fordern verletzt die Freiheit. In gleicher Weise kann auch die Verantwortung nicht gefordert werden. Verantwortung und Vertrauen sind zwei Seiten der Medaille „Freiheit“: ohne Vertrauen keine Verantwortung und ohne Verantwortung kein Vertrauen.
In einer technischen Welt stehen wir in der Gefahr, auch Pädagogik und Therapie technisch als Reparatur von Störungen zu sehen (z. B. durch Medikamente, Reparaturwerkstatt Therapie). In einem solchen Modell ist das Kind Objekt von Methoden, die diagnosegeleitet eingesetzt werden. Wenn sie nicht wirken, dann wurden die falschen Methoden eingesetzt, denn der wirkmächtige Mensch ist überzeugt, dass jede „Störung“ zu heilen sei, wenn man die richtigen Methoden anwendet. (Anmerkung: Dieses mechanistische Reparatur-Denken ist mittlerweile weit verbreitet. Es wird schnell nach dem Therapeuten gerufen, oft als bequemer Weg, das Problem abzuschieben und sich nicht selbst einlassen zu müssen, und wenn es nicht wirkt, dann wurden die falschen Methoden angewandt.)
In diesem Paradigma wird abweichendes Verhalten ungünstigen Bedingung zugeschrieben, die es auszugleichen gilt. Fühlt man sich jedoch in ein Kind ein, dann sind seine oft ungünstigen Lebensbedingungen auch sein Lebensfundament. Für ein ethisches Bewerten der Täter fehlt ihm das Bezugssystem, um sich ein Anderssein vorstellen, geschweige, ein Anderswerden wünschen zu können. Von außen zu kommen und dem Kind zu sagen: „du musst anderes werden“, „du musst dich verändern“, „so wie du bist, ist nicht OK“, kann das Kind nicht verstehen, denn so wie es ist, fühlt es sich OK. Sein So-Sein ist das Ergebnis seines Lebens, das sein Überleben gesichert hat. Seine Bezugspersonen waren für das Kind prägend, andere kannte es nicht, und dass diese aus ethischen Gründen nicht OK sind, ist für das Kind nicht verstehbar. Dieses So-Sein anzunehmen, fällt schwer, wenn man nur auf die Verhaltensprobleme blickt, die nicht in die Normalität passen.
In der Regel geht es in erziehenden Systemen um Anpassung. Kann ein Kind diese Anpassung leisten, dann ist es OK, wenn nicht, dann braucht es Interventionen, dass es sich anpasst. Doch ist Anpassung keine Entwicklung. Die alten Prägungen bleiben erhalten.
Damit wird das Wesen einer freien Beziehung erkennbar, die das Kind so annimmt, wie es geworden ist und die auch in seinen Problemen eine hohe Lebensleistung anerkennt. Heilung ist keine Anpassung, sondern sich einer neuen Entwicklung zu öffnen, in der die Geschichte nicht abgetrennt, sondern eingeschmolzen wird.
Damit dies gelingen kann, müssen die Wertungen aufgelöst werden, denn seine Familie, wie immer deviant sie ist, ist seine geliebte Familie. Zu den Herkunftssystemen eine gute Beziehung zu pflegen, und dort ein „ja“ zur Entwicklung des Kindes zu erreichen, ist die beste Bedingungen, dass sich das Kind öffnen und einlassen kann. Gelingt dies nicht, bleibt das Kind im Alten gebunden und wird in einem Loyalitätskonflikt zerrieben.
9. Vertrauen zeugt Freiheit
Vertrauen ist keine Fähigkeit, die man lernen kann, wie man lernen kann, sich zu konzentrieren. Wer nie in seinem Leben Vertrauen erfahren hat, dem wir es immer fremd bleiben – er ist vertrauensblind. Wer nie geliebt wurde, für den ist die Liebe wie eine Farbe, die er nicht sehen kann, er ist liebesblind.
Ein anderes Wort für Vertrauen ist Liebe. „Ich vertraue dir“ ist die höchste Form der Wertschätzung; sie macht die Liebe anschaulich. Vertrauen ist der Ackerboden, in dem das Leben wurzelt und aus dem es seine Kraft zieht. Das Gegenteil ist das Misstrauen. Wo das Misstrauen regiert, ersticken Verordnungen und Kontrollen das Leben.
Die Unfähigkeit zu Vertrauen ist bei traumatisierten Menschen auch der Grund des oft zwanghaften Kontrollbedürfnisses. Ohne Vertrauen ist das Leben anstrengend und fordert permanent hohe Aufmerksamkeit, verbunden mit der Unfähigkeit loslassen und sich hingeben zu können. Die Lebensenergie wird in der Kontrolle verbrannt und steht nicht für die Weiterentwicklung zu Verfügung.
Wer aus dem „ich vertraue“ lebt, der tritt aus der Unfreiheit des Misstrauens heraus in den Raum der Freiheit. So gilt auch umgekehrt, durch das Vertrauen eines Menschen wird die Freiheit geboren. Im Raum des Vertrauens muss ich mich nicht anpassen, sondern bin frei, der sein zu können, der ich sein will. Doch hat die Freiheit auch ihren Preis: ich muss mir klar werden, wer ich sein will – Mündigkeit ist anstrengend. Bequemer ist es, Anweisungen zu befolgen, als Freiheit zu wagen.
Die Geburt der Freiheit ist das existentielle Ziel von Heilung. Nur wer frei ist, kann Verantwortung übernehmen, für sich, für andere Menschen und für das eigene Leben.
10. Vertrauen und Offenheit
Ein anderes Wort für Vertrauen ist Offenheit. Nur wenn man einem Menschen vertraut, kann man sich ihm auch öffnen, ihm wirklich zuhören und von ihm lernen. Mittrauen verschließt das eigene Lebenshaus; es macht eng und klein. Sokrates hat dazu eine kleine Episode aus seinem Leben erzählt:
Er hatte einen sehr guten Freund, der einen Sohn hatte. Er fragte Sokrates, ob er seinen Sohn einige Zeit zu sich nehmen würde, damit er etwas von seiner großen Weisheit lernen könne. Sokrates willigte ein und sagte, er soll zuerst für einen Tag vorbeikommen, bevor er sich entscheiden werde. Dies geschah. Am Tag darauf fragte der Freund, ob er seinen Sohn in die Lehre nehmen werde. Sokrates antwortete: es tut mir leid mein Freund, ich kann ihm nichts lernen, denn er liebt mich nicht.
Man könnte auch sagen, … er vertraut mir nicht, er öffnet mir nicht sein Herz. Dies gilt allgemein: was man nicht liebt, dass öffnet sich einem nicht, doch was man liebt, dass offenbart einem seine ganze Schönheit und seinen inneren Reichtum. Dies ist das Geheimnis erfolgreichen Lernens: den Lernstoff zu lieben. Wer sich der Mathematik nicht öffnen kann, dem wird sie sich wie ein bockiges Kind verweigern, doch wer sie liebt, dem wird sie ihre ganze Schönheit offenbaren. Diese ideale Pädagogik hat Saint-Exupery in Worte gefasst:
„Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern erwecke in den Männern die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“
Vertrauen ist ein Wundermittel, das alle Türen öffnet. Heilung heißt: das Vertrauen von traumatisierten Kindern zu erringen. Der Rest geschieht dann von alleine. Eine Traumatherapeutin berichtet von einer ähnlichen Erfahrung: Von den 150 Stunden geht es oft 148 Stunden nur darum, dass der Klient ihr vertraut. Ist dies möglich, dann ist alles andere auch geschafft.
11. Die elementaren Bedürfnisse eines Kindes
Eine heilende Beziehung muss vom Kind ausgehen, muss an den Bedürfnissen des Kindes ansetzen. Allgemein ausgedrückt, bleiben die besten Methoden wirkungslos, wenn sie nicht spezifisch sind. Einem Ertrinkenden nützen keine Schwimmanweisungen, er braucht einen Rettungsring.
Stelle man sich dieser Erkenntnis, muss man sich immer wieder der Frage stellen: was sind die wirklichen Bedürfnisse des Kindes und was sind eigene Bedürfnisse, die man in das Kind hineinprojiziert? Im Unterricht viele Stunden still zu sitzen und zuzuhören, sind die Bedürfnisse des Lehrers und der Schulordnung, doch sind es auch die Bedürfnisse des Kindes? Dies gilt auch für das Leben in einer Wohngruppe. Auch dieses wird vorrangig von den äußerlichen Vorgaben des Gruppenlebens bestimmt, wie es in der Gruppenordnung festgelegt ist.
Die Anpassung des Kindes an diese Ordnungen ist ein selbstverständlicher Konsens unserer Gesellschaft, so dass man sich nicht traut, ihn in Frage zu stellen. Stellt man jedoch die Heilung und nicht die Anpassung in den Mittelpunkt, dann werden dem Frager ganz andere Bedürfnisse des Kindes bewusst. Jedoch hat diese Bewusstwerdung einen hohen Preis: die elementaren Bedürfnisse des Kindes passen nicht in die sozialen Systeme und die Erwartungen vieler Pädagogen an ihrer Tätigkeit.
Wer sich auf die Beziehung mit Kindern wirklich einlässt und sie nicht nur als Objekte von Ordnungen und Plänen sieht, der kommt mit seiner eigenen Kindheit und seinen eigenen kindlichen Bedürfnissen in Berührung. Sich zuzugestehen, selbst wieder Kind zu sein, eröffnet eine ganz neue Qualität der Beziehung zum Kind, macht manchen Menschen jedoch auch schmerzlich ihre eigenen Defizite bewusst.
Die elementaren Bedürfnisse unserer Kinder sind uns eigentlich erst durch das enge Zusammenleben mit den Kindern „unter einem Dach“ bewusst geworden. Es sind die natürlichen Sehnsüchte eines Kindes nach Familie, Eltern, Vater, Mutter, Geschwister, Verwandte, Heimat und dem dahinter stehenden Grundbedürfnis nach Geborgenheit und Sicherheit.
12. Die innere Adoption
Sich dies bewusst zu werden, ist wie ein Erwachen, denn damit steht man plötzlich in einer ganz anderen Art von Verantwortung, als sie üblich das fachliche Engagement leitet und die Grundlage des Auftrags zuständiger Stellen ist.
Die Beziehung zu einem „Fall“, ist fachlich bestimmt, weshalb von den Behörden auch pädagogische und therapeutische Fachkräfte gefordert werden. So ist es der staatliche Auftrag des Lehrers, die Kinder nach den Vorgaben des Lehr- und Stundenplans zu unterrichten. Die kindlichen Bedürfnisse bleiben außerhalb der eigenen Verantwortung, was es ermöglicht, nach dem Unterricht die Schule zu verlassen, denn für die elterlichen und familiären Bedürfnisse des Kindes, und den sich daraus ergebenden Problemen, sind andere zuständig. In diesem Sinne haben sich die sozialen Systeme arbeitsteilig spezialisiert und professionalisiert, mit der Folge einer, die Personen und Institution betreffenden Umwertung der fachlichen und personalen Identität. Damit verbunden ist die Segmentierung und Eingrenzung der Verantwortlichkeit der Fachkräfte.
Sich den Bedürfnissen des Kindes bewusst zu werden, ist das eine, sich ihr zu stellen, ist jedoch etwas ganz anderes, denn dies verändert die eigene Identität grundlegend. Nimmt man die Sehnsucht des Kindes nach einer elterlichen Beziehung an, dann hat dies radikale Folgen: man „adoptiert“ das Kind und wandelt sich in ein Elternteil. Das Wort „adoptieren“ heißt übersetzt, „auserwählen“, was das Wesen dieser Entscheidung treffend ausdrückt: … ich wähle dich aus, hebe dich aus der Masse heraus. Nun bist du bist ein Auserwählter in meinem Leben und hast für mich eine besondere Bedeutung.
Dieser freie Entschluss für einen anderen Menschen bindet. Aus diesem Blick ergibt sich auch ein anderes Verständnis des Phänomens Bindungsstörung. Wir erleben bei bindungsgestörten Kindern, dass sie in ihrem Leben noch keine Erfahrung dieser Auserwähltheit machen konnten, sie noch nie Subjekt waren, sondern meist Objekt. Wir haben erlebt, dass hinter diesen bindungsgestörten Kindern eine tiefe Verlassenheit steht, ein Kränkung ihrer existentiellen Sehnsucht, ein Auserwählter im Leben eines Menschen zu sein, ein einmaliges, individuelles Wesen. Bindungsstörung kann nur durch die innere Adoption geheilt werden. Liebe ist, einen anderen Menschen zu adoptieren, d. h. ihn zu einem Auserwählten in meinem Leben zu machen.
Jedes Kind will ein Auserwählter, ein einmaliges Wesen sein, was wir bei unseren Kindern eindrücklich erleben. Dies ist das eigentliche Wesen von Kindlichkeit. In einem religiösen Sinne ist das Wesen des Menschen der Bruch der Einheit mit dem Göttlichen, was die Heilungssehnsucht des Menschen erklärt, von einem göttlichen Vater auserwählt zu werden. Viele Auffälligkeiten, die wir bei unseren Kindern erleben, sind unbewusste „Strategien“, gesehen zu werden und wichtig zu sein.
Damit sind wir im innersten Kern einer heilenden Beziehung angekommen, der Neugeburt in der Liebe eines Menschen, der mich auserwählt.
13. Übertragung
Freud hat mit der Psychoanalyse eine Methode entwickelt, Entwicklungshemmnisse aufzulösen. Auch hier ist das Wesentliche, dass der Therapeut den Klienten für den Zeitraum der Therapie gleichsam adoptiert. Die Heilung hängt auch hier vom Gelingen dieser besonderen Beziehung ab, worin der Klient seine früheren Erlebnisse und Gefühle z. B. gegenüber dem Vater, auf den Therapeuten überträgt und in den Zustand des damaligen Kindes regrediert. Heilung gelingt dann, wenn in dieser Reinszenierung der damaligen Beziehung die Probleme bewusst werden und aufgelöst werden können.
In der therapeutischen Sondersituation geschieht die Eltern-Kind-Beziehung zeitlich befristet in einem künstlichen Szenario (auf der Couch). Bei Kindern ist die pädagogische Übertragung in eine natürliche Beziehung eingebettet. Der wesentliche Unterschied ist jedoch, dass Kinder ihre Bedürfnisse nicht zeitlich und örtlich befristen. Kinder sind radikal und wollen den anderen jederzeit, ganz und für immer.
Kinder konfrontieren uns mit ihrem unbändigen Lebenswillen, der enorm bereichert, doch auch enorm fordert. Lässt man diese Übertragung zu, dann kann man sie nicht nach der definierten Stundenzahl wieder abschalten. Die pädagogische Übertragung ist eine Adoption, die einem in Vater oder Mutter wandelt. Ein weiterer Unterschied ergibt sich dadurch, dass der Therapeut nur für die Diagnosen Verantwortung übernimmt, das andere Leben des Klienten bleibt draußen, wie auch der Lehrer nur Verantwortung für die Vermittlung des Stoffs übernimmt und nicht für die ganzheitliche Entwicklung des Kindes. In der pädagogischen Übertragungsbeziehung steht man in der ganzen Verantwortung für das Kind, als ob es ein eigenes Kind wäre.
Viele Einrichtungen gehen den Weg, einen neutralen Beziehungsraum zu schaffen und bewusst diese Übertragungsbedürfnisse (Sehnsüchte) des Kindes auszuklammern – Gruppenregeln bestimmen den Alltag. Beschränkend wirken außerdem die dienstlichen Rahmenbedingungen und die berufliche Identität der Mitarbeiter als pädagogische Fachkräfte.
Dies Überlegungen machen die Verantwortung erkennbar, in der man steht, wenn man die kindlichen Bedürfnisse nicht nur erkennt, sondern sich ihnen stellt. Kinder sind etwas anderes als Klienten, Fälle und Patienten. Wer sich mit Kindern einlässt, der tritt in eine elterliche Verantwortung für ihr Leben, was bei traumatisierten Kindern eine besondere Bedeutung erlangt, wie es die Betroffene zu Beginn ausdrückte.
„Wir können das Leben nicht auf dem normalen Weg eintreten, wie ein Kind es betritt, geführt an der Hand eines liebevoller Eltern, auf die wir uns ganz hingebend verlassen können. Wir müssen es auf anderen Wegen betreten, auf einer Brücke, die uns ein Mensch in seiner Liebe baut“. Ich füge hinzu: in einer neuen Familie, die uns diese Möglichkeit bietet.
14. Familiarität
Damit mussten wir uns der Frage stellen, wie solche heilenden Beziehungen und Räume geschaffen werden können. Wie können wir dem Kind wieder eine Familie bieten, worin seine Traumen ausheilen können? Wird es nicht immer eine künstliche Situation bleiben, die keine Kraft entfaltet?
Kommen wir nochmals auf das Wesen von Übertragung zurück. Sie wirkt, auch wenn der Therapeut nicht der reale Vater ist und sich die damalige Beziehung nicht in der realen Situation ereignet, sondern in einer künstlichen Situation. Heilend sind nicht die äußeren Rahmenbedingungen, sondern, dass Übertragung geschieht. Hierbei war folgende Klärung grundlegend:
Familie ist eine Organisationsstruktur, die durch Lebenspartner, einer definierten Lebenspartnerschaft, einer gemeinsamen Wohnung, ggf. durch gemeinsame Kinder und einem gesetzlichen Status bestimmt ist. Darin haben die Personen Funktionen und Rollen, auch hat die Familie im sozialen Umfeld einen Status.
Davon getrennt ist die Qualität „Familiarität“, die etwas ganz anderes ist als die Organisation „Familie“. Familie kann man organisieren, doch nicht die Familiarität. Sie ist eine besondere Qualität, die dem entspricht, was wir als „Milieu“ bezeichnen. Dies drückt sich auch darin aus, dass Familiarität nicht an eine bestimmte Familie gebunden ist; familiär kann auch ein Betrieb, eine Klinik, eine Schule, eine Wohngruppe sein.
Das wirkende Kraftfeld ist die „Familiarität“, unabhängig von den realen Bedingungen. Familiarität kann in widrigen Umständen sein und kann in idealen Bedingungen nicht sein. Viele unserer Kinder haben Familiarität noch nicht erlebt, sie müssen sie erst entdecken und einen Geschmack dafür entwickeln.
Viele unserer Kinder sind in diesem Sinne fundamental beeinträchtigt. Die frühen Lebensbedingungen waren durch Eltern, oder elterlich wirkende Personen, bestimmt, die selbst krank, gestört, belastet, gewalttätig, kriminell, abhängig, … waren, sind. Das Kind wurde in keine „Familie“ als eine zweite Gebärmutter hineingeboren, worin seine nächsten Reifungsschritte erfolgen konnten.
War im Mutterleib alles im Überfluss da, so wird durch die ersten Lebenserfahrungen die Welt modellhaft geprägt, in der das Kind weiterhin lebt: Ist es eine vertrauensvolle, liebevolle Welt, in die das Kind nach der paradiesisch-uterinen Welt hineingeboren wird, ein Welt, in der es willkommen und angenommen ist, oder ist es nach dem Schock der Geburt eine Welt voll Versagen, Hunger, Durst, Kälte, Einsamkeit, Ablehnung? Diese ersten Lebenserfahrungen sind Lebensfundament: Ist es fester Grund, voll von Vertrauen, oder ein weicher, voll von Vorsicht und Misstrauen?
Nur aus dem Verstehen dieser Urerfahrungen werden viele Verhaltensweise traumatisierter Kinder verständlich, aber auch die negative Prognose, noch Grundlegendes verändern zu können. Es macht aber auch die Größe und Schwere der Aufgabe bewusst, die damit verbunden ist.
15. Mütterlichkeit
Diese Unterscheidung zwischen Familie und Familiarität gilt auch für Mutter und Mütterlichkeit, Vater und Väterlichkeit. Eine reale Mutter hat das Kind geboren, doch heißt dies nicht, dass sie auch eine mütterliche Mutter ist. Mütterlichkeit wird nicht automatisch durch die Mutterschaft mitbegründet. Davon zu trennen ist ein Mutterinstinkt, der nach Winnicott kein Urinstinkt ist. Mütterlich-fürsorgliche Gefühle (Brutpflege) werden nach der Geburt durch Hormone (Oxytozin) bewirkt, die mit dem sinkenden Hormonspiegel ebenfalls abgeschwächt werden, sie sind nicht Teil des Wesens Mensch geworden.
„Die Annahme eines «Mutterinstinktes», der zwingend eine ganz besondere Verbindung zwischen Mutter und Kind herstellt, ist nicht bestätigt worden. Die Beziehung einer Mutter zu ihren Kindern wird durch ihre eigene Lebensgeschichte bestimmt … Dass Mütter eine besonders große Bedeutung haben, ist kein Naturgesetz, sondern ebenso das Ergebnis gesellschaftlicher Vorgänge … In vielen Primitivkulturen wird diese Isolation von Mutter und Kind in der Kleinfamilie durch vielfältige Gruppenbeziehungen ersetzt.“ (Psychologielexikon)
Mütterlichkeit ist kein Instinkt, sondern eine Beziehungsqualität, die im Wesen eines Menschen wurzelt. Sie kann nicht einfach geübt oder trainiert werden, sondern hängt von der gesamten Persönlichkeit ab. Wer mütterlich ist, der ist auch in anderen Lebensbereichen fürsorglich; es ist ein Mensch der Geborgenheit verströmt, nicht nur dem eigenen Kind gegenüber.
Dies macht verstehbar, warum Mütterlichkeit nicht unbedingt an die leibliche Mutter gebunden ist, sondern dort erlebbar wird, wo wir uns geborgen fühlen. Dieses mütterliche Urvertrauen ist nicht vom Verhalten des Kindes abhängig, sondern bedingungslose Entschiedenheit für das Kind, was verstehbar macht, warum Mütterlichkeit kein Instinkt ist. (Anmerkung: Im Lauf der Professionalisierung der Pädagogik wurden diese elementaren Kompetenzen: Familiarität / Mütterlichkeit / Väterlichkeit immer unbedeutender und durch formale Inhalte verdrängt, denn sie sind schwer durch Curricula zu definieren und noch schwerer methodisch zu vermitteln.)
Mutterinstinkt ist etwas anderes als Mütterlichkeit. Mütterlichkeit ist kein Instinkt und keine Hormonwirkung. Damit stellt sich die Frage, ob im Kind ein natürliches Bedürfnis nach Mütterlichkeit angelegt ist, oder dieses erst durch das Erleben von Mütterlichkeit entsteht.
Aufgrund unserer Erfahrungen sind wir überzeugt, dass das Kind eine natürliche Sehnsucht nach Mütterlichkeit in sich trägt, die jedoch verkümmern kann, wenn sie nicht genährt wird. Unter extremen Bedingungen kann der Mensch wieder diese Tiefenschicht aufschließen. In einer tiefen existentiellen Not kann diese Mütterlichkeitssehnsucht wieder aufbrechen. Mutterphantasien sind Ausdruck der Selbstheilungskraft der Seele, wie sie in der Marienverehrung einen rituellen Ausdruck findet. Mütterlichkeit ist eine Grunddimension des Menschlichen, die in Extremsituationen ins Bewusstsein drängt.
Bei vielen traumatisierten Frauen haben wir erlebt, dass gerade diese besondere Beziehungsqualität durch das Trauma zerstört wird. Mit dem Verlust des Vertrauen zerbricht auch die Mütterlichkeit. Dies ist Folge der tiefen Vertrauensstörung, denn Vertrauen ist das „existentielle Herz“ der Mütterlichkeit, d. h. einem Menschen bedingungslos vertrauen zu können.
16. Saatkörner pflanzen – Geduld
Eine verkümmerte Mütterlichkeit erleben wir bei vielen unserer Kinder. Unsere Kinder haben zwar eine leibliche Mutter, doch nur wenige haben Mütterlichkeit erleben dürfen, so dass diese Grundkraft in ihnen heranreifen konnte. Damit ergibt sich ein Problem, wie in vielen anderen Bereichen auch: wie kann das Kind etwas erkennen, das es nicht kennt. Schon beim Vertrauen haben wir dies erlebt: wie kann ein Kind vertrauen, wenn es dieses noch nie erleben durfte – wenn es „vertrauensblind“ ist. So sind viele unserer Kinder „mütterlichkeitsblind“.
Dies ist eines der großen Probleme der Heilung von Traumen: wir können nicht selbstverständlich annehmen, dass das Kind, das versteht, was wir ihm an Beziehungsangeboten machen. Wir dürfen nicht unsere Erfahrungen in das Kind hineinprojizieren. Es ist mit der Sprache vergleichbar: auch die Mütterlichkeit hat ihre eigene „Sprache“, worin Worte, Gesten, Berührungen ihre ganz eigene Bedeutung haben (analog zur Väterlichkeit). So kann z. B. eine Berührung für den, der diese Sprache versteht, eine große Bedeutung haben, für den, der die Sprache nicht versteht, kann die gleiche Geste ein Bedrohung darstellen, die Angst und Abwehr auslöst. Wer dies nicht versteht, der bewertet dies als Zurückweisung und re-agiert.
Damit wird etwas sehr Wesentliches eines heilenden Weges erkennbar: das verkümmerte Pflänzchen Mütterlichkeit wieder zum Leben zu erwecken, damit es ihre Heilwirkung im Leben des Kindes entfalten kann. Bildhaft ausgedrückt, müssen wir im Garten des Kindes das Heilkraut der Mütterlichkeit suchen – manchmal erst pflanzen – und zur Entfaltung bringen, als natürliche Selbstheilungskraft der Seele.
Die entscheidende Qualität eines Mitarbeiters ist die Fähigkeit, die Übertragungsbedürfnisse der Kinder annehmen zu können, was auch bedeutet, die eigene Gegen-Übertragung auf das Kind zulassen zu können (z. B. Kindlichkeit). Diese Fähigkeit hängt nicht an der fachlichen Qualifikation, sondern ausschließlich an der Persönlichkeit einer Menschen, d. h. ein entschiedener Mensch zu sein und kein Schilfrohr im Wind der eigenen Bedürfnisse.
Elementarer Konflikt
Bei einigen unserer Kinder haben wir einen elementaren Konflikt erlebt, der sie schier zerreißt: die elementare Sehnsucht nach Mütterlichkeit bei ihrer realen Mutter, die diesem Bedürfnis nicht nachkommen kann, da ihre eigene Mütterlichkeit verkümmert, oder durch eigene Traumen zerstört wurde. Dieses Bedürfnis abzuschalten, ist den Kindern nicht möglich und es auf andere Personen umzulenken, erleben sie als Verrat der eigenen Mutter. Diese Kinder zerbrechen an diesem Konflikt. Oft ist eine autonome Grundhaltung (Bindungsstörung, sich überhaupt nicht einzulassen) für sie die einzige Lösung des Konflikts.
Dieser Grundkonflikt, dass die Kinder „bindungslos gebunden“ sind und sich nicht entwickeln können, ist ein großes Problem. Mit einem Bindungsangebot verschärft man oft den Konflikt. Erreicht man, dass sich das Kind öffnet, erzeugt dies oft tiefe Probleme bei der leiblichen Mutter, die ihre eigene Identität oft an das Kind gebunden hat.
17. Väterlichkeit
Wie Familiarität und Mütterlichkeit, ist auch „Väterlichkeit“ etwas anderes als „Vater“. Viele unserer Kinder haben nur leibliche Väter, die nicht einmal ihrer formalen Verantwortung nachkommen – Väterlichkeit haben sie nie erlebt, wie es die Betroffene schildert:
„Wir können das Leben nicht auf dem normalen Weg eintreten, wie ein Kind es betritt, geführt an der Hand eines liebevollen Vaters, auf den wir uns ganz hingebend verlassen können“.
Bei Traumen liegt oft noch eine besondere Tragik vor: viele Täter sind Männer, womit auch eine grundlegende Störung der Beziehung zum Männlichen verbunden ist. Für die natürliche Entwicklung des Kindes – Bub und Mädchen – ist die Väterlichkeit ebenso notwendig, wie die Mütterlichkeit. Mütterlichkeit schafft die innere, Väterlichkeit die äußere Sicherheit und Geborgenheit, woraus sich eine väterliche und eine mütterliche Seite von Vertrauen und Verantwortung ergibt. Die Evolution hat diesen Geschlechtsunterschied als eine sehr effektive Überlebenssynergie geformt.
Wir erleben bei unseren Kindern eine große Vatersehnsucht, bis hin zur einer Vateridealisierung, weil sie einen realen Vater nicht erleben konnten. Diese Sehnsucht nach einem übermächtigen Beschützer und Versorger führt im späteren Leben oft zu erheblichen Enttäuschungen und ist der Grund, sich immer wieder Männern hinzugeben, welche väterliche Tugenden vortäuschen und oft selbst Täter sind.
Mütterlichkeit steht mehr in der Verantwortung für das innere Leben, Väterlichkeit für die äußeren Bezüge. Dadurch unterscheidet sich auch der Blick auf das Leben. Ist das innere Leben durch den innerfamiliären „Kosmos“ bestimmt, mit seinen alltäglichen Konflikten, die die Mutter mehr ausgleichen als lösen muss, so steht in den äußeren Bezüge die Verantwortung für die Sicherheit und das Überleben des Ganzen im Vordergrund. Die beiden Realitäten, und damit auch die Horizonte, sind anderes. In der Menschheitsgeschichte bestimmte das Überleben die Beziehungen nach außen, meist in Form von Konkurrenz und Kooperation. Daher stehen die väterlichen Beziehungen – und ihre Lösungsstrategien – in einem anderen Kontext: es geht ums Ganze, ums Überleben, um Führung, Sinn und Struktur.
Nicht nur die Buben, sondern auch die Mädchen, müssen das Väterliche in sich entwickeln, um Verantwortung für das eigene Leben übernehmen zu können. Beides ist notwendig: der Blick auf den Mikro- und den Makrokosmos, nach innen und nach außen. Väterliche Führung erfordert, den Blick zu heben und über den Tellerrand hauszusehen. Väterliches Vertrauen hängt an diesem Über-Blick.
Traumen bewirken eine Veränderung des Blickwinkels: das große Ganze geht verloren, da das Überleben im Alltag im Vordergrund steht, weshalb sich diese Menschen auch als „Überlebende“ bezeichnen. Heilung braucht den Mut, den „Kopf“ wieder zu heben und sich aus der Macht der Details zu befreien und wieder den Blick in die Weite zu wagen.
Entwicklung geht nicht ohne diesen „väterlichen Blick“ und die damit verbundene „väterliche Verantwortung“ für die eigene Zukunft und für die Zukunft der anderen Menschen. Väterlichkeit ist das Wort für einen übergreifenden Lebenssinn, der dem Mikrokosmos Struktur geben kann. Psychologisch ausgedrückt, ist Väterlichkeit, die Fähigkeit zum Reframing. (Anmerkung: Wie Mütterlichkeit nicht an eine weibliche Person, ist auch Väterlichkeit nicht zwingend an eine männliche Person gebunden.)
Gerade in Krisen ist Väterlichkeit und der damit verbundene Weit- und Überblick besonders wichtig, um den Kurs vorgeben zu können. In Krisen ist die Synergie mit der Mütterlichkeit überlebenswichtig. Heute erleben wir eine tiefe Krise der Väterlichkeit und damit verbunden oft auch der Synergie. Viele Väter flüchten vor ihrer Verantwortung in mütterliche Verhaltensweisen, weil sie nicht die Kraft haben, Risiken einzugehen. Nur wenn das Kind im Spiel dies lernen kann, kann es auch später Krisen meistern. So gehört zur Väterlichkeit auch die Ermunterung der Kinder zum Risiko, was oft in einen Konflikt mit der Behütersorge der Mütter führt.
Die „väterlichen Kompetenzen“ sind die Fähigkeit zu führen, Sinn und Orientierung zu erkennen und vorzugeben, die Bereitschaft, auch ordnende Strukturen zu erschaffen, zu erhalten und auch zu verteidigen. Damit verbunden ist die Notwendigkeit, auch Macht positiv anzunehmen und manchmal auch ein Machtwort zu sprechen. Erlebbar wird Väterlichkeit auch in der handelnden Kompetenz, z. B. in der für das Kind erlebbaren Handwerklichkeit. Gelingt dies, dann ist die stärkste Legitimation der Väterlichkeit das Ansehen, die Stellung und der Ruf des Ganzen. Es ist die stärkste Kraft für die Entwicklung eines Selbstbewusstseins.
18. Vaterprägungen
Dieses positive Ideal von Väterlichkeit macht auch die negativen Vater- und Männlichkeitsprägungen unserer Kinder erklärbar. Ihre Mütter sind selbst meist traumatisierte Frauen, die in ihrem Schicksal gefangen sind und sich immer wieder Täter suchen. Typisch sind dies Männer mit einer Pseudo-Männlichkeit, die sich die väterlichen Tugenden als Machoattitüde anheften. Die Unfähigkeit Verantwortung übernehmen zu können, jedoch das eigene Ego nähren zu wollen, erzeugt einen neuerlichen Teufelskreis von Tätergewalt.
Für die Kinder sind die Folgen dramatisch: sie wollen ebenso mächtig sein. Die Machoattitüden erlangen für sie eine hohe Attraktivität und erzeugen eine Fehlprägung von Männlichkeit und Väterlichkeit. Das größere Ganze, dass hinter diesen Männern meist Versagerkarrieren stehen, können sie nicht erkennen. Besonders schwerwiegend ist die Lüge in diesen Systemen: es wird etwas vorgegeben, was man selbst nicht lebet. Das Leben besteht oft aus hohlen Phrasen.
Mit diesen Lebensentwürfen ist meist auch ein Abwertung des Weiblichen und der Mütterlichkeit verbunden. Frauen sind in solchen Konzepten Objekte der Bedürfnisbefriedigung. Synergie besteht nicht, was die prekären Lebendbedingungen bewirkt und verstärkt.
Auf dem Weg der Suche nach heilenden Kräften ist uns die Schwere der Aufgabe bewusst geworden, die Fehlprägungen aus der frühen Zeit wieder umzuprägen. Diese frühen Prägungen wirken auch umso tiefer, je früher sie erfolgt sind. Diese Macht der Täter hat eine hohe Attraktivität, mit der großen Gefahr, selbst dieses Ideal werden zu wollen. Ein ethisches Koordinatensystem, welches das Verhalten bewerten könnte, ist im Kind nicht vorhanden.
Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass eine Bewusstwerdung im kindlichen Alter nicht möglich ist und Verhaltensmodifikation zwar Auswüchse eingrenzen, doch keine Veränderung der Identitätsprägung bewirken kann. Dies ist nur durch väterliche Modelle möglich, welche eine andere Art von Väterlichkeit (und Mütterlichkeit) vorleben, die für das Kind attraktiv ist, doch braucht dies ein lange Wegstrecke. Auch sind die Täter-Keime wie eine Droge noch lebenslang attraktiv, denn sie ermöglichen einen schnellen Ego-Kick, ohne einen mühevollen Entwicklungsweg.
Hiermit ergibt sich eine weiter Problematik, denn in sozialen Hilfesystemen arbeiten vorrangig Frauen und männliche Modelle sind nicht unmittelbar erlebbar, um mit ihnen zusammen in die männliche Welt eingeführt werden zu können. Hier ist auch wichtig: diese Väterlichkeit ist keine rein männliche Sache, wie die Mütterlichkeit, keine rein weibliche ist.
19. Geschwisterlichkeit
Die enorme Bedeutung der Geschwisterlichkeit ist uns im Lauf der Jahre bewusst geworden, je mehr Kinder über einen längeren Zeitraum stabil zusammenlebten und sich dadurch Geschwisterlichkeit ausbilden konnte. Auch hier ist – wie in den anderen Bereichen auch – zu unterscheiden, zwischen: realen Geschwistern, anderen Kindern, und Geschwisterlichkeit als eine ganz eigene Qualität von Beziehung mit einer besonderen heilenden Kraft, die nicht primär von gemeinsamen Eltern und gemeinsamen Genen abhängt.
Ein Blick in die Evolution zeigt – als das Aufwachsen und die Enkulturierung noch nicht institutionalisiert war – wie sehr die anderen Kinder, jüngere und ältere, als Prägungsraum für das Kind bedeutsam war. Nicht nur soziale Kompetenzen, sondern auch technische Fähigkeiten, die für das Überleben der Gemeinschaft wichtig waren, wurden im Spiel geübt und perfektioniert. Modellernen von den Älteren, Fürsorge für die Kleineren, Mithilfe bei den Erwachsenen verbanden nicht nur die leiblichen Kinder, sondern alle Kinder der Gemeinschaft zu einer „geschwisterlichen Einheit“. Davon hing das Überleben der Gemeinschaft ab, da die Eltern zeitlich im Alltagsaufgaben gebunden waren. Die Großfamilie mit Tanten und Großeltern, auch der anderen Kinder, war der soziale Raum dieses Geschehens.
Eine in diesem Sinne definierte Geschwisterlichkeit gehört zur genetischen Grundausstattung des Menschen. Sie ist eine soziale Grundkompetenz für das Gelingen des späteren Lebens in Lebens- und Arbeitsgemeinschaften (Lernen vom anderen, sich Einordnen, Vorbild sein, Respekt vor den Autoritäten, Fürsorge, …). Anmerkung: In der modernen Gesellschaft sind solche Werte unmodern geworden, wo es mehr um die autonome Freiheit des Individuums geht, die Kleinfamilie vorherrscht und familienübergreifende Kindergruppen kaum mehr bestehen und durch KITA, Schule und Hort abgelöst wurden. Gesellschaftliche Werte und Tugenden rücken hierdurch in den Hintergrund, der Egoismus nimmt zu.
Die Gruppe und einzelne Kinder als Untergruppe, ermöglicht, sich auch zu verbünden und für das Durchsetzten eigenen Wünsche, Koalitionen zu schließen. Auch lernt das Kind, dass eine Gruppe eine Rangordnung hat, in die es sich einpassen muss. Bedeutend für das soziale Lernen ist auch das Streiten und die Bereitschaft sich wieder zu vertragen, das Teilen und auf den anderen Rücksicht zu nehmen. Und wesentlich auch der Zusammenhalt: „Auch wenn wir uns Geschwister anders als Freunde nicht aussuchen können: Wir teilen mit ihnen immerhin ein gemeinsames Schicksal. Und egal, wie sehr wir uns nerven und streiten: Soll mal jemand anderes wagen, ein schlechtes Wort über unsere Schwestern oder unseren Bruder zu verlieren. Am Ende halten wir zusammen.“
Eine Wohngruppe ist ein andere Art von Gemeinschaft, wie eine Familie. Doch bildet sich darin schnell Geschwisterlichkeit aus. Eine besondere Kraft erleben wir immer wieder, wenn ein neues Kind hinzukommt. Für das Überleben eines Kindes war es früher entscheidend, sich an die Menschen der Gemeinschaft zu binden, bei denen es eine höchste Überlebenschance hatte. Diese sozialen Bindungsmuster werden von den Neuen fast augenblicklich übernommen. Nicht primär der Erwachsene bestimmt durch sein Verhalten die Bindung, sondern das Kind übernimmt die Bindungsstärke zu den jeweiligen Bezugspersonen von den anderen Kindern.
Im Zusammenleben von Kindern mit einer belastenden Vorgeschichte, bietet die Geschwisterlichkeit auch eine therapeutisch heilende Kraft, die so kaum in Lehrbüchern zu finden ist. Überlebensstrategien werden unbewusst und sehr schnell von anderen übernommen. Dies umfasst nicht nur die positiven, sondern auch die problematischen, mit denen man sich Vorteile verschaffen kann. In diesem Sinne wirken oft Aufenthalte in Kliniken. Dem Spektrum der eigenen Symptome werden oft auch noch die hinzugefügt, die man bei anderen Kindern beobachtet.
Die stärkste Kraft einer geschwisterliche Gesellschaft ist die Freude an der eigenen Entwicklung. Am anderen Kind wird anschaulich, wie man Schwierigkeiten meistern kann, sie bieten kind- und altersgemäße Verhaltensweisen, die effektiver sind als solche, die dem erwachsenen Gehirn entspringen.
20. Spiel
Spielen ist die Wesensäußerung des Kindes. Kinder haben die Fähigkeit, überall zu spielen und eine kleine Spielwelt – wie einen schützenden Kokon – aufzuspannen, unabhängig von den äußeren Umständen. Sogar auf dem Weg in die Gaskammern von Ausschwitz haben die Kinder noch gespielt.
Die enorme Bedeutung des Spiels für das Kind wird an einer Naturbeobachtung von Affen in Australien deutlich, die einer großen Trockenheit ausgesetzt waren und nach mehreren Wochen verdursteten. Aufschlussreich war, welche Verhaltensweise sie nach und nach einstellten. Das kindliche Spiel war das letzte, bevor Agonie einsetze.
Damit wird die enorme Bedeutung des Spiels anschaulich, zum einen für das Lernen, zum anderen als heilender „Kokon“.
Schwere Traumen zeigen ihrer Wirkungen auch im Spielverhalten der Kinder, so dass auch vermutet werden kann, dass die Spätfolgen auch durch ein gestörtes Spielverhalten bewirkt werden. Wir haben bei vielen Kindern erlebt, dass die Traumen zu einer künstlichen Reifung führen und dadurch Entwicklungsphasen nicht ausreichend durchlebt (altersgemäß durchspielt) werden. Dadurch wird das Spielverhalten und damit die Entwicklung massiv gestört.
Spielen wieder ins Fließen zu bringen und Bedingung zu schaffen, in denen das Kind wieder seinen Kokon spinnen kann, ist eine Grundbedingung von Heilung. Hierzu sind Bedingungen erforderlich, in denen das Kind wieder auf die Stufe regredieren kann, wo seine Defizite liegen, um sie spielend nachzuholen.
Eine weitere Paradoxie des Spiels besteht darin, dass es schwer von außen bewirkt werden kann, es muss sich der Funke der Begeisterung im Kind selbst entzünden: Spielen ist eine Wesensäußerung der Freiheit. Eine tiefe Störung dieser natürlichen Begeisterungsfähigkeit ist die unkreative Langeweile, die sich in Medien eine Scheinbefriedigung verschafft.
Dass sich diese „Freiheit im Spiel“ entfalten kann, müssen die Erwachsenen zurücktreten und dürfen nicht ihre Vorstellungen von „gutem Spiel“ in das Kind hineinprojizieren. Kindliches Spiel kann sich im ganz Kleinen und Unscheinbaren entfalten – das Spielmaterial ist nicht entscheidend, wohingegen für Erwachsene gerade das Spielzeug bedeutsam ist. Viele Spielsachen heute – die als pädagogisch wertvoll erachtet werden – sind geschlossene Spiele, die keine Offenheit zur Entfaltung der kindlichen Fantasie und Begeisterung ermöglichen. Kaufladen kann man auch mit Steinen und Grashalmen spielen. Computerspiele sind determinierte Welten, die dem Wesen des Spiels entgegenstehen.
Computerspiele sind keine offenen Spiele, sie ermöglichen dem Kind keinen Entwicklungs-Kokon, sondern vereinnahmen es in eine vordefinierte Spielrealität, die nur scheinbar offen ist. Die Freiheit darin ist keine wirkliche, sondern nur eine Wahlfreiheit zwischen Alternativen. Dies sind keine Entfaltungsräume. Das eigentliche Ziel der Spielentwickler ist, das Ego zu stimulieren, um so die Spieler von sich abhängig zu machen. Damit wird auch der Wesensunterschied zum Konsum erkennbar: Spielen macht nicht abhängig, sondern frei. Spielen kann man nicht konsumieren.
Im Spiel kann das Kind sich eine heile Welt imaginieren, in der es seine Wünsche und Sehnsüchte, wie in einem Garten neu pflanzen kann. Spiel hat eine große Selbstheilungskraft, denn im Spiel kann Vertrauen entdeckt und geübt werden. Spiele bieten ideale Möglichkeiten, dosiert Risiken einzugehen, die soziale Hierarchie auszutesten und den Realitätssinn zu prägen. Dazu braucht das Kind einen behüteten Freiraum, ideal: die Synergie zwischen Väterlichkeit und Mütterlichkeit.
21. Heimatlichkeit
Das Wort Heimat lässt in uns vielfältige Farben an Empfindungen anklingen. In der modernen Welt wirkt es eigenartig antiquiert, wie aus einer anderen Zeit. „Heimat“ ist rational schwer zu begreifen und umfasst sehr viel mehr Dimensionen als der realer Geburtsort. Sie ist der Mutterboden, woraus unsere Tiefenwurzeln ihre Lebenskraft ziehen. Heimat ist ein tiefer Sehnsuchtspunkt des Menschen, womit wir tiefe Gefühle verbinden: „Heimat ist der Ort, wo meine Wiege stand“, „Heimat ist, wo Menschen sind, die mich lieben“, „Heimat ist, wo meine Freunde sind“.
Wie Mütterlichkeit ist auch Heimatlichkeit von der realen Heimat gelöst. Dieses Kraftfeld kann überall wirken, wo wir Geborgenheit, Vertrauen und Verlässlichkeit erleben, im Betrieb, in der Schule, in der Lehre, an der Universität. Anmerkung: viele dieser „Orte der Tiefenprägung“ haben diese beheimatende Qualität eingebüßt und sich in funktionale Organisationen gewandelt. Heimatlichkeit ist kein Qualitätskriterium im Bewertungskatalog einer Excellenzuni, wie sie noch im Wort Alma Mater („nährende, gütige Mutter“) durchscheint.
Damit wird auch erkennbar, wie sehr es einen Menschen trifft, wenn er seine Heimat verliert oder, wenn er in seinem Leben nie Heimatlichkeit erleben durfte. Viel Traumen zerstören das Vertrauen, auch in die heimatlichen Wurzeln. Entheimatung ist ein Begriff, der erahnen lässt, wie umfänglich Traumen einen Menschen treffen. Anmerkung: Er findet sich nicht in Diagnosekatalogen zur Klassifikation eines PTBS, ist jedoch eine Grundbedingung für eine heilende Beziehung. Beheimatung oder Wiederbeheimatung ist daher eine wesentliche Kraft unsers Konzeptes. Ein Kind wieder zu beheimaten, braucht jedoch andere Bedingungen, als sie übliche therapeutische Methoden bieten können.
Damit stellt sich die schwierige Frage: wie sehen diese Bedingungen aus? Nur Menschen können Verlässlichkeit, Vertrauen und emotionale Geborgenheit vermitteln. Für den gläubigen Menschen ist die existentielle Heimat der Himmel, die ewige Geborgenheit in der göttlichen Liebe. Dieses Beziehungserleben wird auf Äußeres konditioniert, was wir als regionale Kultur bezeichnen: Landschaft, Sprache, Räume, Häuser, Kleidung, Einrichtung, Möbel etc.
Für Kinder ist etwas sehr Elementares mit Heimat verbunden: das Spiel. „Heimat ist, wo ich spielen darf und durfte“. „Heimat“ ist der Entwicklungs-Kokon. An einer Schule, die keine heimatliche Schule ist, wird das Kind nicht viel lernen. Eine Familie, die keine heimatliche Familie ist, wird das Kind sich nicht entwickeln. Heimat ist der Vertrauensraum, in dem Lernen, Entwicklung, Wachsen geschehen können. Das Kind hat jedoch die große Fähigkeit, alles in einen heimatlichen Kokon zu wandeln, und wenn es nur für einen Augenblick ist.
In einer organischen Entwicklung verlässt das Kind seine Heimat, wenn die Phase der Kindheit abgeschlossen ist und geht, symbolisch gesprochen, in die „Fremde“, in sein Leben. Dieses Verlassen ist eine Grundbedingung, um erwachsen werden zu können. Was in der Heimat im Schutzraum des Spiels und der elterlichen Verantwortung stand, muss nun selbst übernommen werden – die Zeit des Spielens geht zu Ende und der „Ernst des Lebens“ steht vor der Tür. Anmerkung: Heute erleben wir eine Störung dieser natürlichen Ablösung. Wir vermuten, dass dies mit der Schwächung der Heimatlichkeit in der Familie zusammenhängt: Geborgenheit macht autonom. Wer wirklich zuhause war und ist, wer ein Zuhause hat, der kann auch das Leben wagen und weggehen.
22. Kultur
Für das alltägliche Leben mit Kindern ist es sinnvoll, zwischen Makro- und Mikrokultur zu unterscheiden. Jede Lebensgemeinschaft (Familie, Partnerschaft, Schule, Betrieb, Dorf, Stadt, Partei, Verein …) hat ihre ganz eigene unverwechselbare Kultur. Diese wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst, welche die kulturelle Identität eines Menschen vor allem in der Kindheit prägen (Landschaft, Klima, Vegetation, Sprache, Lebensweise, Beruf der Eltern, Stadt, Land, Religion, Mentalität der Menschen, Kunst und Tradition).
Die kleinste kulturelle Einheit ist der Mensch. Seine individuelle Kultur bestimmt, wie er sein Leben gestaltet, abhängig davon, was ihm wesentlich ist und wie er seinen Lebenssinn definiert. Kultur zeigt sich in den internen und externen Beziehungen. Die Mikrokultur ist eine größere Makro-Kultur (Region, Staates, Religion, Sprache, Geschichte …) eingebettet. Kultur ist eine Art Mikro- und Makrokosmos für das Leben und für die Entwicklung der Kinder. Kultur gibt den Stil, die Werte und Normen für das Leben vor. Sie beengt, gibt aber auch Halt. Anmerkung: In der Postmoderne wurde die Befreiung von den Begegnungen der Kultur gefeiert, ohne die Nebenwirkung zu bedenken.
Heimat und Kultur sind der Boden, in dem bildlich gesprochen, die Lebenspflanze eines Menschen wurzelt. Anmerkung: Mit der Globalisierung, dem Internet und der Globalisierung der Märkte hat die prägende Bedeutung der kleinen kulturellen Räume abgenommen. War früher die Kommune, die Gemeinde, die kulturtragende Kraft, die durch eine Vielzahl von Beziehungen bestimmt war, so zeigt sich die Schwächung von Kultur vor allem in der Schwächung der persönlichen Beziehungen und der Identität stiftenden Kräfte der kulturellen Lebensräume. In der globalisierenden Welt haben diese Prägungen ihre Bedeutung verloren und werden eher als mobilitäts- und konsumhinderlich angesehen.
Kultur bietet ein Kraftfeld, das auch in Krisenzeiten das Überleben sichert und es zeigt sich, dass gerade in Krisen der Mensch dieser Kräfte bedarf, die nicht durch staatliche Förderprogramme aufzufangen sind.
Viele Menschen werden von den Werten der Moderne überfordert. Sie begünstigen die kognitiv fitteren und benachteiligen die Schwächeren, die über eine geringere Flexibilität verfügen. Wir erkennen zunehmend weltweit, dass die Schwächeren auf die kulturellen und heimatlichen Wurzeln angewiesen sind und die Schwächung der Kommune durch den Konsumismus erhebliche Nebenwirkungen mit sich bringt, die sich immer mehr auch in politischen Spannungen zeigen.
Unsere Kinder gehören Großteiles zu den Verlierern der Globalisierung. Sie benötigen für ihr Leben den kulturellen Boden, um sich einzuwurzeln und daraus die Lebenskräfte zu ziehen, die sie für ihre Heilung und ihr späteres Leben benötigen.
Ein weiteres Problem vieler traumatisierter Kinder ist ihre Kulturlosigkeit, da sie oft in prekären Familien aufwuchsen, bis hin zu einer Antikultur, wie sie durch Kriminalität, Asozialität, Arbeitslosigkeit, Drogen, Überschuldung, Gewalt … begünstigt wird. Diese kulturellen Prägungen wieder aufzuweichen und mit einer „nährenden“ Kultur zu ersetzen, ist schwierig und braucht lange Zeit, da die Prägungen in den Fundamenten erfolgt sind. Diese Re- oder Enkulturierung ist eine weitere wesentliche Säule von Heilung, Resilienz und den Erfolg der beruflichen und sozialen Eingliederung.
Kultur ist im Alltag kein großes Konzept, sondern wird in den kleinen Verrichtungen und Begegnungen gelebt (Lebensstil, Haltungen, Kultur des Essens, Sprechens, der Umgangsformen, der Kleidung, der Hygiene, der Achtung, dem Respekt, …).
23. Zuhause
Haus und Wohnung sind der reale Lebensort, es ist die Adresse, unter der ich zu erreichen bin, doch ist die Adresse nicht automatisch mein Zuhause. Im Wort „Behausung“ klingen archaische Bedürfnisse nach einer bergenden Höhle durch, die Schutz und Geborgenheit in der Unbill des Lebens bietet und wohin man flüchtet. Mit der Wohnung ist auch der Hausstand verbunden, der auch für die soziale Einbettung, das Ansehen und die Stellung der Familie bedeutsam ist: „man ist, was man hat“. Das Erscheinungsbild mittelalterlicher Städte ist sichtbarer Ausdruck dieses Bedürfnisses, die soziale Stellung sichtbar werden zu lassen. Das Haus und der Hausstand sind auch prägende Faktoren der sozialen Identität und des familiären Selbstbewusstseins.
Im Gegensatz zu Haus und Wohnung, sind Häuslichkeit und Wohnlichkeit ganz andere Qualitäten. Es sind keine physischen, sondern Erlebnis- und Erinnerungsorte. Jeder kennt die wohlig aufsteigenden Gefühle, wenn man die Räume und Flure im Haus denkt, in denen man als Kind seine Spielwelten inszenierte. Die Bausteine der Häuslichkeit sind Erlebnisgeschichten. Ein häusliches Haus, eine wohnliche Wohnung sind eine Fluchtburg in den Gefahren des Lebens, sie sind eine Kraftquelle.
Beobachtet man Kinder, dann kann man ein Pendeln zwischen Draußen und Drinnen erleben. Je sicherer sich das Kind fühlt, desto größer wird auch zunehmend der Abstand vom Haus, bis hin zur Ablösung in die Erwachsenheit. Doch auch im späteren Leben bleibt das Zuhause ein Ort, der einen heilenden Rückzug bietet und wo man heilend Regredieren und Erinnerungen wachrufen kann.
Prägende Lebenserfahrungen vieler unserer Kinder war nicht die häusliche Geborgenheit, sondern gegenteilig, die existenzielle „Entbergung“ durch viele Wohnungswechsel, verbunden mit dem Grundgefühl, dass einem nichts gehört, man nicht dazugehört und man überall nur ein gelittener Gast ist.
24. Besitz und „Adel“
Das Selbstbewusstsein eines Kindes hängt direkt mit dem „Besitz“ und dem Ansehen des „Anwesens“ zusammen. Doch kann diese Kraft nur wirken, wenn es das Kind als sein Zuhause erlebt. Daher haben wir Confido bewusst nicht als Heim gestaltet (Heim verstärkt eher die sozialen Prägungen der Randständigkeit), sondern als ein Anwesen (Haus mit größerem Grundbesitz), als Hof, Gehöft, was in Niederbayern ein Vierseithof ist. Auch hier findet eine Übertragung statt: … es ist unser Besitz, worauf ich stolz bin. Es mag für therapeutische Ohren trivial klingen, aber das Selbstbewusstsein hängt auf dem Lande an der Anzahl an Hektar und PS der Traktoren. Damit diese Kraft wirken kann, muss alles uns gehören, im Unterschied zu einem anonymen Leben in einem staatlichen Besitz, oder dem Besitz eines Trägers.
Teil einer besitzenden, wohlhabende Familie mit Ansehen zu sein, ist eine unbewusst wirkende Kraft, die eine neue Identität bewirkt, die durch kein therapeutisches Training zu erreichen ist. Es ist die Grundlage von Würde, Stolz und Selbstwert.
In diesem Sinne wirken auch unsere Pferde nicht nur im Rahmen der Reittherapie, sondern sie verleihen dem Hof einen „adeligen“ Gutshofcharakter. Besitzer von Pferden und eines Reitstalls zu sein, mit einer eigenen Reithalle, adelt den Besitzer und ist eine starke Kraft, asoziale Prägungen und Gefühle des Unwertes, und traumabedingte Gefühle der Schuld und der Scham zu überwinden.
Eine besondere Wirkung erleben wir in der niederbayrischen Bauform eines Vierseithofes. Er bietet eine burgartige Sicherheit mit einem Innenhof, der Geborgenheit vermittelt. Gerade für traumatisierte Kinder ist diese Sicherheit von großer Bedeutung. Wir legen auch großen Wert darauf, dass Besuchskontakte von belasteten Menschen nicht bei uns stattfinden, um die mit dem Ort verbundene innere Sicherheit nicht zu gefährden.
25. Körperlichkeit
Die Frage ist, wie die heilende Kräfte vermittelt werden können. Das eine sind Worte, doch auch hier weniger das „Was“, sondern das „Wie“. Mit unserer Stimme, Modulation, Lautstärke, begleitende Mimik und Gestik, formen wir Begegnung. Das andere ist die Berührung als die unmittelbarste Kraft, besonders beim Kind. Körperkontakt gibt den Milieukräften erst ihre Kraft. Was wäre Mütterlichkeit ohne die Berührung des Kindes; was Geborgenheit ohne die Möglichkeit, jemand in den Arm nehmen zu können; was Kindlichkeit, ohne die Möglichkeit, auf dem Schoß sitzen zu können; was wäre Vertrautheit, ohne die Hand des anderen.
Zu Beginn des menschlichen Lebens im Mutterleib, besteht die Beziehung ausschließlich körperlich. Nach der Geburt prägt die Weise, wie das Kind körperlich angenommen wird, seine Bild von der Welt draußen. Unbewusste Einstellungen der Mutter gestalten sich unbewusst in der Weise, wie sie das Kind berührt. Ist es ein geliebtes Wunschwesen, oder eine störende Beeinträchtigung – ihre Hände sind das Ausdrucks-Organ, ihres unbewussten Bildes vom Kind. Hier geschehen die ersten Grundprägungen über die Welt und erfolgen die ersten Urverletzungen der Seele des Kindes. Ist die Welt ein wohliger Ort des Willkommenseins, oder ein abweisender Ort der Ungewünscht- und Unbeliebtheit? Werde ich in die Liebe von Menschen hineingeboren, oder in eine Welt, die angefüllt ist mit Gefühlen der Angst und Unsicherheit? Nicht nur der leibliche Körper, sondern auch die Seele werden geboren und damit auch das Urvertrauen oder das Urmisstrauen als Lebensfundament.
Der Menschen tritt über seinen Körper in eine erste „sinnliche“ Berührungs-Beziehung mit der Welt. Haut und Mund, Berührungen und Trinken, sind die Eingangspforten in die neue Lebenssphäre. Diese ersten Urberührungen treten an die Stelle des ganzheitlichen intrauterinen Lebensgefühls. Nach dem schwerelosen Schweben erlebt das Kind nun seine eigene Masse, seine Schwere, sein Gewicht und spürt Druck und Temperatur auf der Haut. Aus der uterinen Welt sind die Gefühle vertraut, die durch den Mund, den eigenen Daumen und die Brust der Mutter vermittelt werden. Diese ersten Berührungen vermitteln die Urerfahrung mit der Welt, die vorrangig durch die Mutter vermittelt werden; hinzukommen die ersten sinnlichen Erfahrungen von Geschmack und Geruch.
Nähe bedeutet in den ersten Lebensjahren vor allem Körperkontakt. Das Gefühl, gehalten, berührt und gestreichelt zu werden, vermittelt dem Säugling Sicherheit und Geborgenheit. Diese fundamentalen Empfindungen sind grundlegend für die körperliche und psychische Entwicklung des Babys. Beim Kind bildet sich so ein Grundgefühl heraus, das den weiteren Lebensweg entscheidend mitbestimmt. Es fühlt sich aufgehoben, die Menschen sind ihm wohlgesonnen, die Welt ist ein sicherer Ort, es erhält Schutz und Hilfe, wenn es sie braucht. Wie wichtig gerade Körperkontakt ist, zeigen Untersuchungen an Frühgeborenen. (http://www.rund-ums-baby.de/baby/geborgenheit.htm)
Dieses sinnlich-sensible und sensorische Urerlebnis ist gleichsam ein unterstes Fundament, mit dem das Kind mit der Welt in Beziehung tritt, es ist die Basis des Urvertrauens. Auch im späteren Leben liegt unter allem Kognitiven diese Schicht der Körperlichkeit, worin Sexualität, Essen, Trinken und alle regressiv-sinnliches Erlebensqualitäten gründen. Diese Schicht hat als unterste einen direkten Zugang zu den elementaren Kraftquellen, die wir für die Regeneration bedürfen. Burning-Out ist u.a. oft die Unfähigkeit, sich aus diesen Quellen Kraft zu holen, wozu Kinder noch imstande sind. Geborgenheit ist auf dieser Ebene das Erleben einer tiefen Zufriedenheit und Harmonie, die kognitive Erkenntnisse nicht vermitteln können. Störungen in diesem Bereich werden als tiefgreifender Mangelzustand erlebt. Bildlich gesprochen, ist es der Mangel an Urerfahrung, sich vom Hauterleben, von der Wärme, von oralen Gefühlen forttragen zu lassen, wie sie das Kind nach dem traumatischen Geburtserlebnis braucht. Geburt ist das erste Lebenstrauma, dessen Heilung ist das erste Vertrauensfundament.
Bei unseren Kindern können wir dieses Urbedürfnis noch sehr ausgeprägt erleben; sie sind noch prägungsoffen, jedoch nur, wenn eine entsprechende sensible Berührungskultur gegeben ist. Berührungen, Umarmen, in den Arm nehmen, Hochheben, Schaukeln, u.v.m. sind Ausdrucksweisen, dem Kind dieses Angenommen- und Angekommen-Sein zu vermitteln. Wir erleben dieses elementare Bedürfnis nach körperlicher Nähe nicht nur bei unseren kleineren Kindern, es ist auch bei den größeren noch vorhanden, doch nimmt diese Möglichkeit mit dem Älterwerden ab, wenn körperlich-sinnliche Kontakte dann als unpassend gewertet werden. Körperlichkeit ist die stärkste direkte Kraft der Heilung.
Bei vielen traumatisierten Menschen beeinträchtigt die gestörte Körperlichkeit das Lebensgefühl, weil körperliche Beziehungen durch das Trauma triggerartig vorbelastet sind (Levine – Körpergedächtnis). Gelingt es jedoch, diese Konditionierungen zu überwinden, können hierdurch den negativen Erlebnissen und Körpergefühlen neue Erfahrungen entgegengestellt werden – ein Auflösen alter Prägungen ist meist nicht möglich.
26. Der Engelkreis
Nach dem Leitsatz unserer Pädagogik: das Kind in die Selbstverantwortung zu führen, gehören dazu auch die erforderlichen Kompetenzen. Verantwortung kann ich nur für etwas übernehmen, was ich auch kann, oder ich bereit bin, mir die erforderlichen Fähigkeiten anzueignen.
Sich auf den oft mühevollen Weg zu machen, sich für etwas Kompetenzen anzueignen, gelingt nur, wenn darin ein Sinn erkennbar wird, der für mich bedeutsam ist, oder der für einen mir wichtigen Menschen bedeutsam ist. Nur dieser Sinn kann die Flamme der Begeisterung entzünden. Gelingt dies, geschieht Lernen meist von alleine, was nicht heißt, dass die täglichen Hausaufgaben, das Zimmer aufzuräumen und Geschirr zu spülen, eine immer neue Herausforderung darstellen.
Damit wird die „Kunst“ der Pädagogik erkennbar, mit Kreativität eine positive Motivation, im Idealfall eine Begeisterung, für scheinbar Banales zu wecken, die nicht nur ein Strohfeuer ist. Wir haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass Kinder für alles zu begeistern sind, wenn der Funke durch einen selbst begeisterten Menschen entzündet wird. Begeisterung kann einen sich selbst verstärkenden Engelkreis schließen, worin etwas zu einem Erlebnis wird.
Der Alltag ist aber auch grau und es gilt etwas zu tun, obwohl man gerade nicht begeistert davon ist und auch kein Begeisterer da ist. Dies ist die Kunst, erlebbar positive Rückmeldungen langsam zeitlich länger zu spannen und die kindlich unmittelbare Bedürfnisbefriedigung für ein höheres Ziel aufschieben zu lernen. Kür und Pflicht müssen unterschieden werden.
27. Prognose
Unsere lange Erfahrung mit Traumen hat uns eine grundlegende Erkenntnis gelehrt. Der Erfolg, ein Trauma zu überwinden, kann durch viele Methoden und Bedingung unterstützt werden, entscheidend ist jedoch der Wille des Betroffenen, sich auf den Weg zu machen. Traumen ziehen die Betroffenen in den Strudel des Selbstmittleides, sie begünstigen Ausreden, weil man einen Grund benennen kann und in Schuld und Scham gefangen ist. Ungünstig wird die Prognose, wenn Helfer sich davon benutzten lassen und Mitleid – wie immer berechtigt – das eigene Handeln blockiert.
Unsere Erfahrung haben gezeigt, dass der einzig erfolgreiche Weg nur darin bestehen kann, die Betroffenen ins Handeln, und Gehen, zu bringen, sie ins Leben zu locken, oftmals auch zu ziehen, zu drücken, zu schieben. Es muss die Verantwortung für das eigene Leben wachsen, die nicht auf andere, Kliniken, Therapeuten, Medikamente, den Staat abgeschoben werden darf. Das beste Mittel dazu, ist Leben als permanente Entwicklung zu begreifen und darin den Kindern ein erlebbares Vorbild zu sein. Traumen kann man nicht wegtherapieren. Man kann nur den Betroffenen stärken und immer wieder ermutigen, sich auf den Weg zu machen und sein Leben neue zu gestalten, wie es die Betroffene, die zu Beginn zu Wort kam, sehr anschaulich ausdrückt.