Bindung und Bindungsstörung

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Fast alle Kinder kommen mit der Diagnose „Bindungsstörung“ zu uns. Das „Bindungssystem“ wieder zu öffnen und sie bindungsfähig zu machen, ist ein erstrangiges Ziel unserer Arbeit. Um handlungsfähig zu werden, müssen wir die tieferliegenden Ursachen verstehen, die reine Beschreibung einer Bindungsstörung hilft dazu wenig. Nachfolgend ein Versuch, dieses „scheue Wesen“ Bindung zu erahnen.

1. Klärung: Bindung

Bindung ist ein sehr schillernder Begriff, der etwas benennt, was schwer zu fassen und damit auch schwer zu definieren ist. Die Unsicherheit drückt die Definition bei Wikipedia aus: …, dass Menschen ein angeborenes Bedürfnis haben, enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehungen zu Mitmenschen aufzubauen. Dies trifft jedoch nicht nur für Menschen zu, sondern ist auch bei Primaten zu finden. Aber auch unsere Haustiere, z. B. Hunde, sind an ihre Herrchen und Frauchen „gebunden“.

Bindung ist eine ganz besondere Lebens-Wirklichkeit, die von intensiven Gefühlen bestimmt ist. Bindung hat ihre eigene „Sprache“ (emotional, primärprozesshaft, restringiert …), begleitet mit einer eigenen Körpersprache und oft verbunden mit Körperkontakt. Freunde wollen wir in den Arm nehmen und mit ihnen Essen gehen. Mit ihnen kommunizieren wir anders als mit Geschäftspartnern.

Grundlage von Bindung ist eine innere Verbundenheit. Vertrauen ist das Fundament, auf dem Bindung steht. Vertrauen ist der Boden, worin Bindung wurzelt und woraus sie ihre Lebenskraft zieht. Wir fühlen uns an die Menschen gebunden, denen wir vertrauen, was auch umgekehrt gilt: wir vertrauen Menschen, an die wir gebunden sind. Noch direkter ausgedrückt, ist Liebe das Band, das Menschen verbindet.

Bindung geschieht nicht nur zwischen Menschen. Der Fan hat eine emotionale Bindung zu seinem Verein, den er liebt. Sein Verhalten gegenüber diesem Club gleicht dem Verhalten gegenüber ihm lieben Menschen. Er freut sich, wenn die Fußballmannschaft gewinnt und ist traurig, wenn sie verliert. Es ist eine Bindung, die lebenslang besteht. Auch der Motoradfan hat eine fast erotisch-emotionale Bindung an sein Bike, worauf auch Abbildungen mit Pin-Up-Girls und Motorrädern und Autos hinweisen. Oft werden Bindungsdefizite in der Kindheit im späteren Leben auf solche Objekte übertragen.

2. Klärung: Beziehung

Unsere alltäglichen Kontakte werden nur im geringen Maße durch Vertrauen und Liebe bestimmt. Die Beziehungen werden durch Interessen „geregelt“. Für die Klärung von Bindung, ist daher die Abgrenzung zu dieser anderen Qualität der Interaktion wichtig, die wir als Beziehung bezeichnen. Bindung steht Beziehung gegenüber, auch wenn beide Begriffe oft synonym gebraucht werden.

Wir können eine gute Beziehung zu einem Menschen haben, ohne an ihn gebunden zu sein. Bindung ist sehr viel mehr als Beziehung. Beziehungen kann man schnell knüpfen und auch schnell wieder lösen, nicht Bindungen. Werden Bindung gelöst, löst dies Trauer aus; wir erleiden einen tiefen Verlust und es bleiben schmerzende Narben zurück. Bindung können wir uns nicht einfach aus der Seele reißen, sie ist darin tief eingewurzelt. Auch wenn wir den sichtbaren Teil der Pflanze abschneiden, kann aus den verbliebenen Wurzen die Bindung schnell wieder aufleben, was der lebenslang bestehenden Abhängigkeit von einem Suchtmittel gleicht, aber auch Co-Abhängigkeit verstehbar macht.

Geklärte und definierte Beziehungen sind die Grundlage des Zusammenlebens. Bindung ist dagegen von schwer zu definierenden Gefühlen bestimmt; sie geschieht in einem „Raum“, in dem nicht die Ratio und die Logik herrscht. Im Gegensatz dazu, ist Beziehung kausal. Sie wird durch Vereinbarungen, Gesetze und Regeln definiert, sie wird vereinbart. Beziehungsfähigkeit ist gegeben, wenn die mit Beziehung verbundenen Vor- und Nachteile erkannt und als Basis für das Zusammenleben akzeptiert werden.

Grundlage ist die Erkenntnis des Ausgleichs, das heißt, Geben und Nehmen müssen balanciert sein, was für Kinder oft schwer zu verstehen ist, die vom Lustprinzip geleitet sind und die nur Vor- und keine Nachteile haben wollen. Menschliche Reife und soziale Mündigkeit hängen am Verstehen dieses sozialen Grundgesetzes. Dies zu erreichen, ist die Aufgabe von Erziehung.

3. Bindung und Beziehung bei Kindern

Damit wird die enorme Bedeutung von Bindung für das Kind erkennbar, das noch nicht in einer kausalen Wirklichkeit lebt und dessen Tun nicht durch rationale und logische Kriterien geleitet ist. Es ist noch nicht vereinbarungs- und damit auch nicht beziehungsfähig. Andere Kriterien – Bindung – bestimmt sein Leben; Vertrauen leitet sein Verhalten.

Kinder treten über Bindung in die Welt und nicht über Beziehung. Kinder sind an ihre Eltern gebunden, aber auch an ihre Kuscheltiere. Am Kuscheltiere wird etwas Wesentliches erkennbar: es wird in der Bindung zu einem Subjekt zu einem lebendigen Wesen, zu einem Du, was auch die oft lebenslange Bindung erklärt. Erst später kommt Beziehung in das Leben des Kindes und damit auch die Welt der Objekte.

Was geschieht wirklich, wenn das Kind eine Bindung eingeht?

Verwenden wir die beiden Begriffe Subjekt und Objekt, um das Geschehen besser zu verstehen. Die Mutter tritt als inneres Subjekt in das Leben des Kindes. Das Kind erweckt die Mutter zu einem „lebendigen Wesen“ in sich. Das Kuscheltier wird im Kind lebendig, in der Innenwelt neu geschaffen, dort zum Leben erweckt.

Dies ist auch das Geheimnis der Bindung in der Liebe erahnbar: wir erschaffen den Geliebten in uns neu, nicht als Abbild des realen Menschen, sondern als Ideal, als Wesen in unseren Gedanken und Träumen. Vielleicht ist dies das unverstandene Wesen von Träumen. In unseren Träumen betreten wir den Innenraum, wo die von uns erschaffenen Idealwesen leben. In Träumen leben und festigen wir die Bindung.

Mit zunehmendem Leben entsteht die äußere Realität, worin auch die inneren Subjekte leben, sie werden zweifach: äußere und innere Subjekte. In einem nächsten Schritt erhalten diese Subjekt auch Eigenschaften und Fähigkeit, mit denen man in Beziehung treten kann. Das Kind betritt die Welt der Beziehungen, worin die Objekte wohnen.

Bindung besteht zwischen inneren Subjekten. Damit wird auch verstehbar, was uns die Bindungsforschung gelehrt hat: besteht Bindung, dann kann die Mutter den Raum verlassen, ohne dass das Kind panisch wird, denn die Mutter ist ja in ihm noch da. Wer sich seiner Liebe sicher ist, der muss sie sich nicht unablässig versichern, denn der andere wohnt ja in seinem Herzen. Dies gilt allgemein: alles, an was wir gebunden sind, ist nicht in der Weise verlierbar, wie Objekt verlierbar sind – es ist ein Teil von uns, Teil unseres Wesens.

Mit dem Erleben des grundsätzlichen Unterschiedes zwischen einem Objekt und einem Subjekte, zwischen Beziehung und Bindung, ist die Welt geteilt. Im Kind steigt die Ahnung auf, dass es selbst nicht nur Subjekt einer unbewussten Bindung, sondern auch Objekt einer bewussten Beziehung ist. Es wird sich als Ich bewusst, das selbst als Ich eine objekthafte Beziehung eingehen kann. 

Die Unterscheidung zwischen Bindung und Beziehung macht noch eine weitere Klärung möglich. In einer Bindung besteht eine innere Verbundenheit. Das Kind hat die Mutter verinnerlicht und die Mutter das Kind. Das Miteinander geschieht nicht eigentlich im Außen, sondern im Innen. Ist dieses Ideal in der Seele zum Leben erweckt worden, dann bleibt dieses „innere Wesen“ lebenslang bestehen, auch wenn es äußerlich nicht mehr das Leben bestimmt. Wir bleiben lebenslang Gebundene. Wer verliebt war, der hat erlebt, dass auch nach der Trennung, der oder die Geliebte im Herzen lebendig bleibt und immer ein Sehnsuchtspunkt ist, der oft durch eine negative Gegenbesetzung ausgegrenzt werden muss.

Bindung ist keine berechnende und abwägende Beziehung, sondern hat ihren ganz eigenen Zauber, der mit dem Wort Hingabe vage erfasst werden kann. An einen Menschen, an den ich gebunden bin, dem gebe ich mich hin, ohne Wenn und Aber. Gelingt es Menschen, sich in eine Bindung zu schleichen, dann können sie sich Vieles „erschleichen“, was von außen oft unverständlich erscheint. Die magische Kraft der Hingabe in der Bindung macht es verständlich. In der Hingabe ist kein Abwägen, wie es das Verhalten regelt. Wo immer Bindung anschwingt, schwingen auch die frühen, prärationalen Erlebnisse an und die damit verbunden Gefühle der Urgeborgenheit. 

4. Urvertrauen / Urbindung

Die Zwillingsschwester von Bindung ist Vertrauen. Urvertrauen kann auch als Urbindung verstanden werden, als eine innere Verbundenheit mit dem Leben, als Urgeborgenheit im Leben. Wer auf diesem sicheren Fundament seht, für den ist das Leben ein sicherer Ort, mit offenen Bindungsstellen, vergleichbar gereichten Händen. Urmisstrauen ist in diesem Kontext die Urbindungslosigkeit, und die Welt ein abweisender und verschlossener Ort. Zwei diametral gegensätzliche Leben.

5. Gesunde Entwicklung

Für eine gesunde Entwicklung ist beides erforderlich: Bindung und Beziehung, Subjekte und Objekte. Vertrauen und Vorsicht, Hingabe und Berechnung, Nähe und Distanz. Bindung ist das Fundament, ist die Identität, auf der das Lebenshaus steht. Gelingendes Leben ist die Synergie dieser sehr gegensätzlichen Qualitäten.

Bindung ist auch die Grundlage der ethischen Reife. Sie ist mehr als nur die Balance von Geben und Nehmen, es ist die Fähigkeit, eigene Nachteile für das Leben des Ganzen, oder einen anderen Menschen, in Kauf zu nehmen. Ethische Reife ist kein Verhalten, das von Vorteilen bestimmt ist, sondern kommt aus dem Erleben, selbst der überreichlich Empfangende zu sein.

6. Bindungsstörung

6.1.   Entwicklung einer Bindungsstörung

Damit wird deutlich, dass eine Störung der Bindung, die Lebenssynergie schwer beeinträchtigt, z.T. unmöglich macht. Für das Verstehen ist die Unterscheidung grundlegend: Bindungsstörung ist etwas ganz andere als eine Beziehungsstörung.

Die Lebens-Wirklichkeit des Kindes ist für uns Erwachsene schwer zu verstehen. Innen- und Außenwelt sind noch nicht getrennt; die Grenze zwischen Innen und Außen ist noch durchlässig; die Welt besteht nur aus Subjekten. Erst langsam trennt sich das Subjekt Mutter in eine äußere und eine innere Mutter. Besteht im Erleben des Kindes Einklang zwischen beiden, ist die Welt des Kindes in Ordnung. Es besteht Bindung im Sinne von Verbundenheit, von Einheit.

Der erste Konflikt tritt in das Leben des Kindes, wenn in dieser Dyade Disharmonie auftritt und die reale Mutter nicht zur idealen passt. Angst, die sich bis zur Verzweiflung steigern kann, ist die Folge. Wenn sich beide „Mütter“ wieder zusammenfügen, ist dies als tiefe Entspannung am Kind zu erleben.

Bleibt eine Disharmonie bestehen, die sich für das Kind nicht auflöst, ist dies der Kern einer Bindungsstörung, der Verletzung der inneren Verbundenheit, der Einheit. Dass immer wieder Spannungen zwischen Innen und Außen auftreten, ist für die Entwicklung erforderlich. Das Kind kann damit umgehen, wenn es die Erfahrung kennt, dass doch immer wieder Einheit entsteht. Eine Störung entsteht, wenn das Kind diese Spannung nicht auflösen kann. Die Folge ist die Spaltung der Mutter in einen Teil, der dem Innenideal entspricht und einem anderen, fremden Teil, der nicht in Einklang gebracht werden kann. Diese „fremde Mutter“ kann das Kind nicht integrieren, sie ist nicht Teil der inneren Verbundenheit. Da das Kind noch nicht über Verhaltensweisen verfügt, damit umzugehen, kann sie diese Anteile nur inselartig ausgrenzen, um seine „heile Welt“ zu sichern.

Später, wenn das Kind kognitiv imstande ist, das Leben auch zu bewerten, erhält dieses fremde Subjekt seinen Ort im Koordinatensystem, es wird zu einem Objekt. Dies gilt allgemein: alles, was nicht gebunden ist, wird zu einem Objektkeim und damit zu einem „Wesen“ der objektiven Welt. Gegenüber Objekten verhält man sich. Das Problem bindungsgestörter Kindern ist, dass z. B. die Mutter beides ist: gebundenes, vertrautes Subjekt und durch Verhalten geregeltes Objekt. Dieses Grundmuster, wird auf die Welt generalisiert, was auch die Entwicklung von Beziehung erschwert, denn Beziehung und Bindung können nicht klar abgegrenzt werden, sie verschwimmen.

Die oft widersprüchlichen Verhaltensweisen solcher Kinder werden dadurch verstehbar: die Welt ist nicht eindeutig, sondern mehrdeutig. Die Trennung von Subjekten und Objekten ist erschwert, da beide innerlich verbunden erscheinen. Sie gehen Bindung ein, doch mit Vorbehalt, dass darin auch ein fremder Anteil ist, der mit Misstrauen besetzt ist. Und sie gehen Beziehungen ein, nicht als definiertes Verhalten, sondern verbunden mit Hingabe, was immer wieder Enttäuschung auslöst, verbunden mit Erinnerungsgefühlen der frühkindlichen Verzweiflung.

Diese grundlegende Unsicherheit in der Welt erschwert das Zusammenleben, denn Bindung und Beziehung verschwimmen und damit auch die Welt der Subjekte und der Objekte, des Eigen und Fremd, der Nähe und der Distanz. Damit wird auch verstehbar, warum diese Menschen sich ein Stück aus dem Leben nehmen und sich an Formales klammern, das ihnen Sicherheit gibt. Einfacher ist es, alles als Objekt zu verstehen, was den hohen Preis höherer Qualitäten fordert, wie sie in nur der Welt der Bindung wachsen. Innere Spannungen sind auch die Ursache von Aggressionen und von Rückzug. Es sind Überlebensstrategien in einer unsicheren, ängstigenden Welt.

Damit wird die Einteilung der Bindungsstörung in eine gehemmte und eine ungehemmte Form verstehbar. Es sind die beiden Weisen, diesen inneren Konflikt auszuleben. 

6.2.   Identität

Bindung ist die Bedingung für etwas sehr Grundlegendes: der menschlichen Identität. Die Mutter ist als erster Bindungspartner der Spiegel des Kindes. Ist dieser Spiegel inkonsistent, dann ist auch das Bild des Kindes von sich gespalten, in einen vertrauten und einen fremden Teil. Wie einem Teil der Mutter nicht getraut werden kann, kann ein solches Kind auch sich selbst nicht vollständig trauen.

Dieses tiefe Misstrauen, nicht nur gegenüber der Welt, sondern auch gegenüber sich selbst, ist etwas, was bei bindungsgestörten / traumatisierten Menschen durchgängig zu finden ist. Ich kann mir selbst nicht trauen, denn ich weiß nicht, welche Anteile von mir sich im Keller verstecken und nachts herauskommen. Besteht eine solche Identitätsschwäche, wird das Leben vorrangig auf Beziehung aufgebaut, das heißt, auf Kontrolle und nicht auf Hingabe und Vertrauen.

Damit verbunden sind Schwächen des Selbstbewusstseins und des Selbstwerts. Wer sich seiner selbst nicht sicher ist, vermeidet Bindung, aus Angst, das brüchiges „Selbst“ zu gefährden (Verletzlichkeit / Dünnhäutigkeit).

7. Heilung / Therapie

Damit stellt sich die Frage, wie eine solch tiefgreifende Dysbalance geheilt werden kann.

7.1.   Überlebensstrategien

Bei bindungsgestörten Kindern stehen oft Überlebensstrategien im Vordergrund und beeinträchtigen nicht nur die Entwicklung, sondern das Zusammenleben. Vorrangiges Ziel von Pädagogik und Therapie ist, diese beeinträchtigenden Überlebensstrategien zu verändern, was meist nur unzureichend gelingt. Solche störenden Verhaltensweise gleichem dem Umsichschlagen des Ertrinkenden, was verstehbar macht, warum es die Angst des Ertrinkenden noch verstärkt, würde man dieses Überlebensverhalten unterbinden. Dies erklärt auch die Schwierigkeiten eines heilenden Weges, diese störenden Verhaltensweise auszuhalten, was ein tieferes Verstehen des Kindes bei den Bezugspersonen erfordert.

Die Grundfrage ist, ob Bindungsstörungen zu heilen sind, oder den Betroffenen nur Techniken an die Hang gegeben werden können – Prothesen ähnlich – mit seiner Störung zu leben, das heißt, seine Beziehungs-Kompetenz zu verbessern.

7.2.   Erkenntnis

Bindungsstörungen sind keine einfachen „Störungen“ einer psychischen Funktion, sondern ein tiefgreifendes Geschehen, das die Fundamente des Lebens betrifft und die Entfaltung beeinträchtigt.

Um Bindungsstörungen zu heilen, oder neue Bindungen zu knüpfen, muss das Kind offen für Bindung sein. In der Kindheit gehört Bindungsoffenheit zum natürlichen Wesen des Kindes, es ist die unbewusste Liebe zwischen dem Kind und seinen engen Bezugspersonen. Im Erwachsenenalter ist es die Liebe, die das Bindungssystem wieder öffnet. Aus der Sicht von Bindung, ist sie eine Regression auf die kindliche Stufe. Verliebte regredieren in ihrer Sprache, Gestik und Körperlichkeit auf die Stufe von Kindern. Die verliebte Welt ist – wie Bindung – arational, vorrangig von Emotionen bestimmt. 

Damit werden die beiden Wege erkennbar, Bindung zu knüpfen: die Regression auf die kindliche Entwicklungsstufe, worin das Bindungssystem noch offen ist, und die Liebe.

7.3.   Heilende Regression

Je jünger das Kind ist, desto offener ist das Bindungssystem, weil der rationale Zensor noch nicht die Eintrittstüren in die Seele bewacht; desto verletzlicher ist aber auch das Kind, was die leidvollen Erfahrungen mit Missbrauch zeigen. Die Heilung von Bindungsstörungen erfordert daher Bedingungen, in denen das Kind sich wieder in diese frühe Phase „zurückfallen“ lassen kann. Dies ist schnell formuliert, doch aus der Warte des Erwachsenen, schwierig zu erreichen.

Die Welt der Bindung ist arational. Damit ist schone eine erste Bedingung benannt: wir müssen die Kommunikation aus der rationalen Welt herauslösen und in eine emotionale Wirklichkeit einbetten. Dies ist im Zusammenleben einer Wohngruppe, einer Schule, einer Klinik schwierig, da formale Kriterien, Ordnungen und Reglungen das Leben bestimmen. Die Anweisungen sind rational, das Miteinander vorrangig eine Wenn-Dann-Beziehung. Psychologisch definiert, ist es eine bewusste, explizite Wirklichkeit.

Im Gegensatz dazu ist der „Bindungsraum“ eine unbewusste, implizite Wirklichkeit. Nicht rationale Gesetzlichkeiten bestimmen die Kommunikation, sondern unbewusste Emotionen, Bilder, Kräfte, Symbole, Berührungen …, es ist ein alogischer und akausaler Denk- und Wahrnehmungsprozess.

Damit ergibt sich ein grundlegender Konflikt zwischen der expliziten und der impliziten Wirklichkeit. Wie können beide unvereinbar scheinenden Wirklichkeiten sich ergänzen und bereichern? Anmerkung: Auch die moderne Psychoanalyse hat im synergetischen Zusammenwirken dieser beiden Wirklichkeiten die Bedingung für psychische Gesundheit erkannt.

7.4.   Vertrauen

Bindung in einer regressiven Wirklichkeit kann man nicht durch therapeutische Methoden bewirken, gar erzwingen. Die Regression alleine würde nichts bewirken, wenn nicht Menschen da sind, an die sich das Kind bindet und denen gegenüber es sein Innerstes öffnet, weil es ihnen vertraut, weil es sie als vertrauenswürdig erlebt und es sich bei ihnen sicher fühlt.

Kinder, die viele Brüche erleben mussten, haben gelernt, dass sich zu öffnen, meist schmerzlich endet. Bevor sie sich wieder öffnen, wird das Gegenüber bis an die Grenzen ausgetestet, ob der andere auch wirklich da bleibt, auch wenn ich mich „aufführe“. Dieses „da sein“, oder „da bleiben“, hängt nicht an fachlichen Kriterien, nicht an der Ausbildung, nicht an Geschlecht und Alter, sondern ist eine personale Qualität eines Menschen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass nur derjenige, der sich selbst trauen kann, der nicht in sich abgespaltene Teile hat, vertrauenswürdig ist. Kinder spüren diese inneren Risse in der Psyche seismographisch.

7.5.   Liebe

Vertrauen schafft den Raum, in dem sich das Eigentliche ereignen kann, die Liebe. Sie ist die unbewusste Kraft, die die Seelentüre öffnet. Ohne Liebe geht in der Welt der Bindung nichts, mag es methodisch noch so perfekt sein.

Die Liebe ist jedoch durch nichts zu bewirken, sie wurzelt in der Freiheit und die ist das Höchste, dessen ein Mensch fähig ist. Diese Freiheit anzuerkennen, ja zu lieben, ist das Fundament, auf dem jede Heilung steht. Bindung ist letztlich ein Geschenk.

Wir mussten leidvoll die Erfahrung sammeln, dass wir auch durch ideale Bedingungen, Bindung nicht bewirken können. Wir müssen wir uns damit abfinden, dass ein kleiner Teil unserer Kinder in diesem Sinne „bindungsblind“ ist, was heißt, wir müssen sie befähigen, mit dieser grundlegenden Beeinträchtigung zu leben. Neue Chancen bietet die „kognitive Neuprogrammierung“ in der Pubertät, Bindung auf einem anderen Weg zu „erkennen“ und sich bewusst dafür zu entscheiden. Wir haben jedoch auch die Erfahrung gemacht, dass dieser Samen einer Bindungserfahrung lange unfruchtbar bleibt und oft sehr viel später im Leben „aufblüht“.

7.6.   Heilendes Milieu

Eine heilende Regression braucht entsprechende Rahmenbedingungen, die ein Zurückschwingen in die frühe Kindheit möglich machen. Wir haben diese im Kapitel „Heilendes Milieu“ zusammengestellt.

7.7.   Die abgespaltenen Mütter

Viele unserer Kinder haben Mütter in der beschriebenen Weise, die selbst in sich bindungsgestört gespalten sind und deren Leben von den damit verbundenen Überlebensstrategien bestimmt / beeinträchtigt ist (Rückzug, Aggression). Ein großes Problem ergibt sich durch die Umgangskontakte, denn dadurch werden die frühkindlichen Muster wieder reinszeniert. In den Kindern werden beide Anteile wieder aktiv: der gebundene Teil, der mit Sehnsuchtsgefühlen an die Mutter verbunden ist, und er ungebundene Teil, der mit frühen Ängsten konditioniert ist, was zu erheblichen Spannungen führt.  Die Folgen wirken oft Tage / Wochen nach, da frühe Gefühle, verbunden mit meist aggressiven Überlebensmustern wieder auftreten.

8. Prognose

Bindung im dargestellten Setting wieder zu „reparieren“ oder neu zu ermöglichen, ist möglich, bedarf jedoch sehr viel Zeit, Geduld und Durchhaltevermögen, und, auch in Krisen, das Kind nicht fallen zu lassen. Prognostisch günstig ist, wenn die Mütter sich selbst auf den Weg machen und ihre eigene Bindungsstörung zu heilen versuchen, oder, wenn keine Beziehung mehr besteht. Leidvoll ist, erleben zu müssen, wie sich die Mütter selbst, im Konflikt zwischen Sehnsüchten und Ängsten, immer wieder die falschen Partner suchen und ihre Bindungsstörung reinszenieren.